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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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waren. Er lud die Flinte mit dicken, fingerlangen Patronen und rannte zurück ans Fenster.
    Die beiden Haupttürme, die auf hohen Holzstelzen errichte ten wachta, waren strategisch von entscheidender Bedeutung. Die Wachen hatten schon die Leitern eingezogen, um zu verhindern, dass man zu ihnen hochklettern konnte. Verschanzt hinter dicken Baumstämmen, beherbergte jeder Turm auf Lafetten montierte Maschinengewehre, die pro Minute Hunderte von Kugeln abfeuern konnten - eine geballte Kraft, die alles am Boden übertraf. Leo musste das Feuer von den Gefangenen weg auf sich ziehen. Er zielte auf den Wachturm unmittelbar vor ihm. Die Chance, dass er genau in die Lücke zwischen den Baumstämmen traf, war minimal. Leo drückte zweimal ab, der mächtige Rückstoß des Gewehrs schleuderte ihn fast zurück. Sofort schossen die Wachen nicht mehr auf die Gefangenen, sondern konzentrierten ihr Feuer auf ihn. Ein Kugelhagel schlug in die Wand ein.
    Leo duckte sich und warf einen flüchtigen Blick auf Sinjawski. Der hockte, während sein Büro in Trümmer geschossen wurde, in einer Ecke und las die restlichen Seiten der Geheimen Rede, als sei alles bestens. Jetzt sah er zu Leo auf und las ihm eine Passage vor.
    »Ich hoffe, dass mein Entsetzensschrei Ihre Ohren erreicht. Stellen Sie sich nicht taub, nehmen Sie mich unter Ihren Schutz. Helfen Sie mir, den Alptraum der Verhöre zu beseitigen und zu zeigen, dass das alles ein schrecklicher Fehler war.«
    Sinjawski stand auf: »Das war alles ein schrecklicher Fehler. Das hätte nie passieren dürfen.«
    »Gehen Sie in Deckung!«, brüllte Leo.
    Eine Kugel traf den Kommandanten in die Schulter. Da Leo nicht wollte, dass er starb, schlug er ihn nieder. Als er selbst auf seine verletzten Knie niederfiel, raubte ihm der Schmerz fast das Bewusstsein.
    »Diese Rede hat mir das Leben gerettet«, murmelte Sinjawski. Es roch nach Qualm. Um das Gewicht von den Knien zu nehmen, rollte Leo sich auf den Rücken, dann kämpfte er sich hoch und stolperte geduckt zum Fenster. Das Trommelfeuer hatte aufgehört. Durch das zerborstene Fenster spähte Leo vorsichtig hinaus auf die Zone und sah, woher der Qualm kam. Direkt unter dem Sockel des Wachturms brannte ein Feuer, hohe Flammen schlugen die Stelzen hinauf. Fässerweise hatte man Brennstoff daruntergerollt und angezündet. Die Insassen des Hochsitzes wurden geröstet wie Fleischstücke am Ende eines Bratspießes, für die Männer dort oben gab es kein Entkommen. Weil sie nicht die Leiter hinabklettern konnten, versuchten die Wachen, sich durch die Lücken zwischen den Baumstämmen zu quetschen, aber sie war zu eng. Ein Mann blieb stecken und kam weder vor noch zurück, während das Feuer sich weiter hinauffraß. Seine Schreie waren entsetzlich.
    Die Soldaten auf dem zweiten Turm begannen sich gegen ein ähnliches Schicksal zu wappnen und schossen auf die Sträflinge, die das Brennmaterial herantrugen. Doch es waren einfach zu viele, und sie kamen aus allen Richtungen. Wenn sie erst einmal unter dem Turm waren, konnten die Wachen nichts mehr ausrichten, nur noch warten. Ein zweites Feuer wurde gelegt. Jetzt, wo beide Türme zerstört waren, hatte sich das Kräfteverhältnis verschoben. Die Gefangenen hatten die Kontrolle über das Lager übernommen.
    Eine Axt schlug in die Tür des Kommandantenbüros. Ein zweiter Schlag folgte. Doch noch bevor man von draußen eindringen konnte, legte Leo das Gewehr auf den Boden und schloss die Tür auf. Dann trat er zurück und hob zum Zeichen, dass er sich ergab, die Hände. Eine kleine Gruppe von Sträflingen stürmte den Raum und fuchtelte mit Messern, Pistolen und Eisenstangen herum.
    Die Anführer musterten ihre Gefangenen. »Bringt sie raus.«
    Die Häftlinge griffen Leo bei den Armen und stießen ihn die Treppe hinunter, dann trieben sie ihn zu den ebenfalls gefangen genommenen Wachmännern. Blutig geschlagen hockten diese im Schnee und starrten auf die beiden brennenden wachta. Die Rauchsäulen, die von ihnen aufstiegen, bedeckten den halben Himmel und kündeten der ganzen Gegend von der Revolte.

    Am selben Tag

    Die Stirn in konzentrierte Furchen gelegt, studierte Malysch die handgeschriebene Liste. Man hatte ihm gesagt, darauf stünden die Namen der Männer und Frauen, die Frajera umbringen wollte. Da er aber nicht lesen konnte, nahm sein Auge nur eine Ansammlung unverständlicher Zeichen wahr. Bis vor Kurzem hatte es ihm nie etwas ausgemacht, dass er nicht lesen und schreiben konnte und nur die

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