Kolyma
Buchstaben seines klikucha erkannte, auch wenn er damit kaum gebildeter war als ein Hund, der hörte, wenn man seinen Namen rief. Genau aus diesem Grund hatte Malysch bei seinem Eintritt in die Bande auch klugerweise darauf bestanden, dass keine seiner Tätowierungen irgendwelche Wörter enthielt, aus Angst, die anderen wory könnten seine Unwissenheit ausnützen und ihm irgendeine Beleidigung einstanzen. Zwar war es unter Todesstrafe verboten, jemandem etwas Falsches, eine offensichtliche Lüge einzutätowieren, aber dieses Gesetz hätte sie vielleicht trotzdem nicht davon abgehalten, sich auf seine Kosten einen Spaß zu erlauben und ihn statt Kleiner einfach kleiner Scheißer zu nennen.
Er war nicht auf den Kopf gefallen, und um das zu beweisen, brauchte er kein Zeugnis oder Diplom. Er musste gar nicht lesen und schreiben können. Was sollte ihm das schon bringen? Lehrer konnten ja auch kein Schloss knacken oder Messer werfen. Warum zum Teufel sollte ein Dieb lesen können? Das glaubte er immer noch, aber trotzdem war etwas anders geworden. Tief in seinem Innern schämte er sich neuerdings immer mehr, und angefangen hatte es genau in dem Moment, wo Soja seine Hand genommen hatte.
Sie konnte nicht wissen, dass er Analphabet war. Wenn sie vom Allerschlimmsten ausging, hielt sie ihn vielleicht für einen vom tscbifir abhängigen Strolch. Das juckte ihn nicht. Anstatt sich ein Urteil über ihn zu erlauben, sollte sie sich lieber Gedanken darüber machen, ob er ihr nicht doch die Kehle durchschneiden würde. Malysch wurde wütend. Er holte tief Luft und konzentrierte sich wieder auf die Namen vor sich - diese ehemaligen Tschekisten. Anhand dessen, was er von Frajera gehört hatte, wusste er, dass auf der Liste die Namen und Adressen standen, außerdem eine Beschreibung der Verbrechen, die jeder Einzelne begangen hatte, und ob er Ermittler, Verhörspezialist oder Informant gewesen war. Als er mit einem dreckigen Fingernagel über die Zeilen fuhr, konnte er erkennen, in welcher Spalte die Namen standen: Es war die mit den wenigsten Wörtern. Die mit den Zahlen, das waren die Adressen. Und daraus ergab sich, dass in der letzten Spalte, der mit den meisten Wörtern, ihre Verbrechen beschrieben wurden. Aber es half nichts, sich etwas vorzumachen. Das hatte ja noch nichts mit Lesen zu tun, nicht mal annähernd. Malysch schleuderte die Liste zu Boden und marschierte in dem Abwassertunnel auf und ab. Alles nur ihre Schuld. Das Mädchen war der Grund, dass er sich jetzt so fühlte. Wäre er ihr doch nie begegnet!
Unschlüssig, was er jetzt machen sollte, lief er den Tunnel hinauf bis in das stinkende Lager der Bande. Frajera behauptete allerdings, dass sie in den Ruinen einer ehemaligen Bibliothek wohnten, der verschollenen Bibliothek von Iwan dem Schrecklichen, in der sich einst eine unschätzbare Sammlung byzantinischer und hebräischer Schriftrollen befunden hatte. Als Analphabet in einer Bibliothek - das Absurde daran war ihm bislang noch nie aufgefallen, nicht bis zu dem Zeitpunkt, als Soja aufgetaucht war. Aber ob nun Bibliothek oder nicht, für Malysch war ihr Basislager trotzdem nicht viel mehr als ein Haufen dreckiger, feuchter Steinkammern. Er drückte sich um die anderen herum, die wie üblich tranken, und schlich sich leise zu Sojas Zelle.
Dort holte er sich einen Schemel, stellte sich darauf und linste durch die Gitter. Soja lag zusammengerollt auf einer Matratze in der Ecke und schlief. Für sie unerreichbar hing eine Laterne von der Decke, die Tag und Nacht brannte, sodass Soja unter ständiger Beobachtung stand.
Sofort verrauchte Malyschs Zorn. Seine Augen wanderten über ihren Körper und verfolgten ihren Schlaf, das sanfte Heben und Senken ihrer Brust. Malysch gehörte zwar zu den wory, war aber trotzdem noch Jungfrau. Er hatte zwar schon gemordet, aber noch nie mit einer Frau geschlafen, was für die anderen eine Quelle großen Vergnügens war. Sie hänselten ihn, dass sich sein Schwanz, wenn er ihn nicht bald einmal benutzte, entzünden und abfallen würde, und dann wäre er nur noch ein Mädchen.
Nach seiner Aufnahme in die Bande hatten sie ihn zu einer Prostituierten geschleppt, ihn in ihr Zimmer gestoßen und die Tür hinter ihm verschlossen, damit er endlich erwachsen wurde. Gelangweilt und mit Gänsehaut auf den Armen hatte die nackte Frau auf dem Bett gesessen und eine Zigarette geraucht. Angesichts des langen Aschestummels hatte Malysch nur daran denken können, ob die Asche ihr wohl auf die
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