Kolyma
Gefangenen, der seine Zehe verloren hatte.
»Dafür, dass dir der Zeh erfroren ist, habe ich eine Stufe genommen. Aber letztes Jahr wolltest du deiner Familie deinen Lohn schicken. Als ich dir sagte, dass das System dich ungerecht behandelt und du deshalb nicht so viel verdient hattest, wie sie brauchten, habe ich da nicht die Differenz aus eigener Tasche ausgeglichen? Habe ich mich nicht persönlich darum gekümmert, dass deine Frau das Geld auch rechtzeitig erhielt?«
Der Sträfling blickte sich um und schwieg.
»Stimmt das?«, fragte der Anwalt.
Zögernd nickte der Sträfling. »Es stimmt.«
Der Kommandant ging wieder eine Stufe nach unten. »Kann ich nicht für diese Tat wieder einen Schritt nach unten machen? Ich erkenne ja an, dass ich noch nicht genügend Gutes getan habe, um meine bösen Taten auszugleichen. Warum lasst ihr mich also nicht am Leben? Gestattet mir, dass ich den Rest meines Lebens damit verbringe, Buße zu tun. Wäre das nicht besser, als mich sterben zu lassen?«
»Und was ist mit den Menschen, die Sie umgebracht haben?«
»Was ist mit denen, die ich gerettet habe? Seit Stalins Tod ist die Sterblichkeitsrate in diesem Lager die niedrigste in ganz Kolyma. Es ist das Ergebnis der von mir angeordneten Erleichterungen. Ich habe eure Ruhepausen verlängert und die Arbeitstage gekürzt. Ich habe die medizinische Versorgung verbessert. Jetzt stirbt man nicht mehr, wenn man krank ist. Man wird wieder gesund. Ihr wisst, dass das stimmt. Ihr konntet die Wachen doch nur besiegen, weil ihr besser ernährt, ausgeruhter und stärker wart als je zuvor. Ich bin der Grund dafür, dass dieser Aufstand überhaupt gelingen konnte.
Der Anwalt war völlig verdattert, dass sein ganzes System aus den Fugen war. Jetzt begab er sich zum Kommandanten. »Davon, dass man wieder eine Stufe hinuntergehen kann, war keine Rede.«
Dann wandte er sich der Führungstroika zu. »Oder sollen wir etwa das System ändern?«
Der Anführer mit dem kantigen Gesicht wandte sich an seine Kameraden: »Der Kommandant bittet uns um eine zweite Chance. Gewähren wir sie ihm?«
Zunächst erhob sich ein Murren, das anschwoll, bis immer mehr Leute skandierten: »Keine zweite Chance! Keine zweite Chance! Keine zweite Chance!«
Der Kommandant senkte den Kopf. Er hatte ernsthaft geglaubt, genug Gutes getan zu haben, um verschont zu werden. Der Anwalt wandte sich dem Verurteilten wieder zu. Es war ganz offensichtlich, dass sie den Prozess nicht ausreichend geplant hatten. Es war überhaupt niemand zum Henker bestimmt worden. Der Kommandant nahm eine der getrockneten purpurnen Blumen aus seiner Tasche und schloss seine Faust darum. Er stieg bis zur obersten Treppenstufe hinauf und starrte in den nächtlichen Himmel.
Mit vor Anspannung zitternder Stimme verkündete der Anwalt: »Wir haben ein gemeinsames Urteil gefällt. Nun müssen wir es auch gemeinsam vollstrecken.«
Waffen wurden gezückt, und der Anwalt trat aus der Schusslinie. »Nur noch eines...«, rief der Kommandant.
Aus Pistolen und Gewehren peitschten Schüsse auf, sogar ein Maschinengewehr ratterte los. Der Kommandant wurde zurückgeschleudert, als hätte ein riesiger Finger ihn weggeschnippt. Er, der sein Leben lang ein Schurke gewesen war, hatte im Angesicht des Todes tatsächlich eine gewisse Würde zurückgewonnen, und dafür hassten ihn die Gefangenen. Sie wollten kein Wort mehr von ihm hören.
Die Stimmung unter den Leuten schlug um. Die anfängliche Begeisterung wich allgemeiner Beklommenheit. Der Anwalt räusperte sich und fragte: »Was machen wir mit der Leiche?«
Einer schlug vor: »Wir lassen sie da liegen, damit der Nächste sie auch sehen kann.«
Alle stimmten zu. Man würde den Toten also liegen lassen.
»Wer ist der Nächste?«
Leo verkrampfte sich innerlich.
Georgi verkündete: »Leo Stepanowitsch Demidow.«
Der Anwalt ließ seinen Blick über die Wachmannschaft gleiten. »Wer ist das? Wer heißt Leo?«
Leo rührte sich nicht.
Der Anwalt rief: »Stehen Sie auf, sonst verlieren Sie das Recht auf einen ordentlichen Prozess und werden sofort exekutiert!«
Langsam und selbst daran zweifelnd, ob seine Beine ihn tragen würden, erhob Leo sich. Der Anwalt führte ihn zur untersten Stufe, dort wandte Leo sich um und blickte seine Richter an.
»Gehören Sie zum Wachpersonal?«, fragte der Anwalt.
»Nein.«
»Was sind Sie dann?«
»Ich bin bei der Moskauer Miliz. Ich wurde inkognito hergeschickt. «
»Er ist ein Tschekist!«, rief Georgi.
In der
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