Kolyma
haben uns gesagt, das hätten sie getan. Sie haben behauptet, sie hätten mit euch gesprochen. Sie haben uns reingelegt! Und euch auch! Sie wollten, dass ihr eure eigenen Männer erschießt.«
Der zweite Panzer kreiste den Laster von hinten ein, der Geschützturm war geradewegs auf die Insassen gerichtet. Die verwundeten Wärter zeigten auf ihre Uniformen. Da wurde die Luke des zweiten Panzers geöffnet, und der Fahrer rief: »Alles klar!«
* * *
Am Rande des Feldlagers hielt Leo den Laster an. Die Verletzten wurden abgeladen und in ein Sanitätszelt gebracht. Sobald der Letzte herunter war, würde Leo den Motor wieder anlassen und über die Landstraße direkt zum Hafen von Magadan fahren. Jetzt war die Ladefläche leer. Sie konnten los. Da tippte Georgi Leo auf den Arm. Ein Soldat näherte sich.
»Sind Sie hier der Ranghöchste?«
»Ja.«
»Der Direktor will mit Ihnen sprechen. Kommen Sie mit.«
Leo bedeutete Lasar und Georgi, im Wagen zu bleiben.
Der Befehlsstand befand sich unter einer schneeweißen Tarnplane. Offiziere inspizierten durch Ferngläser die Hochebene. Detailkarten der Region waren ausgebreitet, ebenso Lagepläne des Gulags.
Ein hagerer, kränklich aussehender Mann begrüßte Leo. »Sie haben den Laster gefahren?«
»Jawohl.«
»Ich heiße Abel Present. Sind wir uns schon einmal begegnet?«
Leo konnte sich zwar nicht sicher sein, dass nicht jeder Wachbeamte früher oder später einmal auf Present traf, aber es war unwahrscheinlich, dass er sie sich alle merken konnte. »Nur kurz.«
Sie gaben sich die Hand.
»Entschuldigen Sie, dass wir auf Sie gefeuert haben. Aber ohne jegliche Ankündigung mussten wir Sie als Bedrohung auffassen.«
Leo musste seine Empörung gar nicht spielen. »Die Häftlinge haben gelogen. Sie haben behauptet, dass sie mit Ihnen gesprochen hätten.«
»Wir werden ihnen schon bald eine Lektion erteilen.«
»Wenn es für Sie von Nutzen ist, kann ich Ihnen genau berichten, welche Verteidigungslinien die Sträflinge aufgebaut haben. Ich kann Ihnen die Stellungen zeigen ...«
Die Gefangenen hatten gar keine Verteidigungslinien eingenommen, aber Leo hielt es für klug, sich hilfsbereit zu geben.
Doch der Regionaldirektor schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein.«
Er sah auf die Uhr. »Kommen Sie mit.«
Leo blieb nichts anderes übrig, als dem Mann zu folgen.
Abel Present trat unter der Plane hervor und schaute in den Himmel hinauf. Leo folgte seinem Blick. Nichts war zu sehen. Doch einen Moment später hörte Leo ein summendes Geräusch. Present erklärte: »An Verhandlungen war nie gedacht. Wenn wir auf deren Forderungen eingehen, würden wir ja riskieren, dass Anarchie ausbricht. Dann würden die in den anderen Lagern auch eine Revolte anzetteln. Egal, was die in Moskau sagen, wir können es uns nicht leisten, weich zu werden.«
Das Summen wurde immer lauter, bis schließlich ein Flugzeug über die Ebene röhrte. Es flog so niedrig, dass man, als es direkt über sie hinwegzog und auf den Gulag 57 einschwenkte, die Kennziffern auf seinem Bauch lesen konnte. Es war eine in die Jahre gekommene Tupolew, eine TU -4, einer der von den fliegenden Festungen der Amerikaner abgekupferten Bomber mit vier Propellermotoren, vierzig Metern Spannweite und einem zylindrisch klobigen, silberfarbenen Gehäuse. Als sie sich im Zielanflug befand, wurde die Bodenluke geöffnet. Sie wollten also das Lager bombardieren.
Bevor Leo noch irgendwelche Einwände gegen diese Entscheidung vorbringen konnte, fiel ein großes, rechteckiges Ding aus der Luke, an dem sich sofort ein Fallschirm öffnete. Während die TU -4 nach oben schwenkte und steil aufstieg, um über den Berg zu kommen, sank die Bombe, perfekt in Stellung gebracht, an ihrem Fallschirm pendelnd aus dem Himmel direkt auf die Lagermitte zu. Im nächsten Moment war sie schon gelandet und nicht mehr zu sehen, weil sich der Fallschirm über die Baracke legte. Doch es folgte keine Explosion, keine Feuersbrunst. Etwas musste schiefgegangen sein, die Bombe war nicht detoniert. Erleichtert warf Leo dem Regionaldirektor einen Blick zu, in der Erwartung, dass der außer sich sein würde.
Doch der Direktor lächelte selbstgefällig. »Die haben doch Lebensmittel verlangt. Also haben wir ihnen eine Kiste mit lauter Sachen geschickt, die sie schon seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Obstkonserven, Fleisch, Süßigkeiten. Die werden fressen wie die Schweine. Allerdings haben wir ein bisschen was
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