Kolyma
verlangen, dass die, die sich wirklich etwas haben zuschulden kommen lassen, menschlich behandelt werden. Wir verlangen dies im Namen unserer revolutionären Ahnen. Durch eure Verbrechen ist unsere glorreiche Sache korrumpiert worden. Wir sind die Erben der Revolution! Wir verlangen, dass ihr um Vergebung bittet! Und schickt uns Lebensmittel, und zwar anständige, keinen Gefängnisfraß.«
Leo war fassungslos. Kopfschüttelnd bemerkte er: »Wenn Sie uns unbedingt alle ins Grab bringen wollen, dann verlangen Sie Kaviar und Prostituierte. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, sagen Sie denen lieber, dass die Wachen noch leben.«
Verdrossen fügte der Mann hinzu: »Ich sollte erwähnen, dass die Wachen am Leben sind. Wir halten sie unter menschlichen Bedingungen fest und behandeln sie besser, als sie uns behandelt haben. Solange ihr uns nicht angreift, passiert ihnen nichts. Für den Fall, dass wir doch angegriffen werden, haben wir Vorsorge getroffen, dass sie bis auf den letzten Mann sterben.«
Die Stimme aus dem Funkgerät antwortete knisternd, und der Funker wiederholte die Worte. »Er will einen Beweis, dass sie noch leben. Wenn wir ihm den liefern, hört er sich unsere Forderungen an.«
Leo trat nahe an Lasar heran, der hier die einzige Stimme der Vernunft war. »Wir sollten unbedingt die verwundeten Wärter hinüberschicken. Ohne medizinische Versorgung werden sie sterben.«
Der wory- Anführer, dem es nicht passte, dass er übergangen wurde, widersprach. »Wir sollten ihnen gar nichts geben. Das wäre ein Zeichen von Schwäche.«
Leo hielt dagegen: »Wenn die Wärter an ihren Verletzungen sterben, sind sie für euch wertlos. Auf diese Weise holt ihr wenigstens noch einen gewissen Nutzen aus ihnen heraus.«
Der Anführer grinste hämisch: »Und ganz bestimmt willst auch du in dem Lastwagen sitzen, der sie rausbringt, stimmt's?«
Er hatte richtig vermutet, denn Leo nickte. »Ja.«
Lasar flüsterte in Georgis Ohr, und dieser wiederholte die Worte mit unverhohlenem Erstaunen. »Und ich möchte ihn begleiten.«
Alle wandten sich zu Lasar um.
Der flüsterte weiter in Georgis Ohr. »Bevor ich sterbe, will ich noch einmal meine Frau und meinen Sohn sehen. Leo hat sie mir weggenommen. Und er ist der Einzige, der uns wieder vereinen kann.«
* * *
Der Laster wurde mit den am schlimmsten verwundeten Wärtern beladen. Insgesamt waren es sechs, von denen keiner die nächsten vierundzwanzig Stunden ohne ärztliche Hilfe überstehen würde. Auf Holzbohlen, die als Krankentragen herhielten, schleppte man sie aus der Baracke, beim letzten fasste Leo mit an. Als der Mann im Wagen lag, waren sie startbereit.
Da erhaschte Leo einen Blick auf die Uhr des letzten Wärters. Sie war billig und vergoldet. Das einzig Bemerkenswerte an ihr war, dass sie Timur gehört hatte. Kein Zweifel: Leo hatte diese Uhr schon tausend Mal gesehen und sich Timurs Geschichte darüber angehört, wie sein Vater sie als Familienerbstück ausgegeben hatte, obwohl sie eigentlich wertlos war. Leo hockte sich hin und fuhr mit der Fingerkuppe über das zersprungene Glas. Dann starrte er den verletzten Mann an. Die Augen des Mannes flackerten nervös. Offenbar begriff er, dass Leo wusste, was es mit der Uhr auf sich hatte.
»Hast du die meinem Freund weggenommen?«, fragte Leo.
Der Beamte schwieg.
»Die hat meinem Freund gehört.«
Leo spürte, wie Wut in ihm aufstieg.
»Es war seine Uhr.«
Der Beamte fing an zu zittern.
Leo tippte auf die Uhr. »Ich muss sie dir wieder abnehmen.«
Er versuchte, das Armband der wertlosen Uhr aufzumachen. Dabei hob er ein Bein an und drückte dem Mann sein Knie gegen die verletzte, blutverkrustete Brust. Er legte sein ganzes Gewicht darauf. »Du musst wissen ... sie ist nämlich ein Familienerbstück ... jetzt gehört sie Timurs Frau ... und seinen Söhnen ... seinen zwei Jungs ... diesen beiden wunderbaren Söhnen ... sie gehört jetzt ihnen, weil du ihren Vater umgebracht hast... du hast meinen Freund umgebracht.«
Der Beamte begann, aus Mund und Nase zu bluten. Seine Arme strichen schwach über Leos Bein, er versuchte es wegzudrücken. Doch Leos Knie rührte sich nicht, noch verringerte er den Druck auf den verletzten Körper. Vor Schmerzen im Knie schossen ihm Tränen in die Augen. Tränen um Timur waren es nicht. Es war Hass und Rache, und es war so mächtig, dass Leo immer fester zudrückte. Der Stoff seiner Hose war schon vom Blut des Mannes getränkt. Von seinem erschlafften Arm zog er die Uhr ab. Die
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