Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
übrigen fünf Männer auf der Ladefläche starrten Leo angsterfüllt an.
    Er marschierte an ihnen vorbei und rief den Häftlingen draußen zu: »Einer von den Beamten ist tot. Wir haben also noch Platz für einen anderen.«
    Keiner der Häftlinge wunderte sich darüber. Während sie den Toten abluden, starrte Leo auf die Uhr. Als die Wut endlich abflaute, fühlte Leo sich plötzlich nur noch matt, und nicht etwa aus Bedauern oder Scham, sondern aus schierer Erschöpfung. Denn die Rachlust, dieses mächtige Stimulans, war versiegt. Eine solche tiefe Wut war es wohl, die Frajera ihm selbst gegenüber hegte.

    Leo warf einen verstohlenen Blick auf den Wärter, der für den Beamten nachrückte, den er gerade getötet hatte. Der Arm des Mannes war in einen blutigen Verband gewickelt. Hier stimmte etwas nicht. Der Mann wirkte nervös, vielleicht hatte der auch etwas mit Timurs Tod zu tun gehabt. Leo streckte den Arm vor und hielt den Mann an. Er griff nach dem Verband und schob ihn beiseite. Ein langer, sauberer Schnitt verlief vom Ellbogen bis zur Hand, ganz offensichtlich hatte er ihn sich selbst zugefügt. Dasselbe traf auf die Wunden am Kopf zu. »Bitte ...«, flüsterte der Mann.
    Wenn er erwischt wurde, würde man ihn erschießen. Wenn die Gefangenen anfingen zu glauben, dass die Wärter ihre Menschenfreundlichkeit ausnutzten, eine Menschenfreundlichkeit, die man ihnen selbst nie entgegengebracht hatte, dann geriet die gesamte Operation in Gefahr. Nachdem er den anderen Wärter umgebracht hatte, zögerte Leo jetzt nur eine Sekunde, dann ließ er den Mann auf die Ladefläche.
    Indem er sich Georgis Stimme lieh, richtete Lasar sich an die anderen Häftlinge und erklärte ihnen, warum er sie verlassen wollte. »Ich gehe nicht davon aus, dass ich noch lange lebe. Zum Kämpfen bin ich zu schwach. Ich danke euch dafür, dass ihr mich nach Hause gehen lasst.«
    Der junge Anführer antwortete: »Du hast vielen Männern geholfen, Lasar. Auch mir. Diesen Wunsch hast du dir redlich verdient.«
    Die anderen Gefangenen stimmten ihm lautstark zu. Leo sah sich Lasar genau an. »Wir müssen uns als Wärter verkleiden.«
    Gemeinsam zogen Leo, Lasar und Georgi drei toten Wärtern ihre Uniformen aus. Hastig zogen sie sich um, weil sie befürchteten, dass die anderen Gefangenen es sich in letzter Sekunde noch anders überlegen könnten. In einer schlecht sitzenden Uniform übernahm Leo das Steuer. Georgi saß in der Mitte und Lasar auf der anderen Seite. Die Gefangenen öffneten das Tor.
    Plötzlich schlug der junge Anführer mit der Hand gegen die Fahrertür. Wenn es nötig war, würde Leo einfach Gas geben. Doch der Mann sagte: »Sie haben sich bereit erklärt, die Verwundeten als Zeichen unseres guten Willens anzuerkennen. Viel Glück, Lasar. Ich hoffe, Sie finden Ihre Frau und Ihren Sohn.«
    Damit trat er von dem Laster zurück. Leo legte den Gang ein und fuhr zwischen den Überresten der beiden Wachtürme hinaus, durch die Umzäunung und auf die Landstraße, die direkt zum Feldlager auf der anderen Seite der Hochebene führte.

    * * *

    So schnell er konnte, rannte der Funker auf das Außentor zu. Als er ankam, schauten die Gefangenen schon dem Laster hinterher, der gerade auf die Landstraße fuhr. Außer Atem rief der Funker: »Sind sie schon weg? Aber wir haben es noch gar nicht dem Regionalkommandanten durchgegeben. Er weiß gar nicht, dass wir die Kranken und Verwundeten losschicken. Soll ich zurücklaufen und ihn informieren?«
    Der junge Anführer packte den Funker am Arm und hielt ihn fest. »Wir informieren niemanden. Mit Männern, die weglaufen wollen, können wir keine Revolution entfachen. Wir müssen an Lasar ein Exempel statuieren. Die anderen müssen begreifen, dass es zum Kampf keine Alternative gibt. Wenn die Soldaten auf ihre eigenen verwundeten Wachleute das Feuer eröffnen, dann ist es eben so.

    Am selben Tag

    Langsam fuhr Leo über die schmale Landstraße auf das Feldlager zu. Als sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten und es nur noch zwei Kilometer bis zum gegnerischen Lager waren, entdeckte er plötzlich am Horizont ein einzelnes Rauchwölkchen.
    Im nächsten Moment war es nicht mehr zu sehen, verschlungen von einer Staubwolke. Nur wenige Meter vor dem Laster riss eine Explosion die Straße auf. Erde, Eis und Splitter prasselten gegen die Windschutzscheibe. Leo schlug das Lenkrad scharf ein und wich dem Krater aus. Das rechte Vorderrad rutschte von der Fahrbahn, und der ganze Laster erbebte. Beinahe

Weitere Kostenlose Bücher