Kolyma
Stand zu ihm, dem Mann, den sie gelernt hatte zu lieben.
Bei der Berührung fuhr Leo zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass seine Frau den Raum betreten hatte. Hastig stand er auf, sodass der Stuhl hinter ihm umfiel. Jetzt, Auge in Auge, sah er ihre Nervosität. Er hatte nie gewollt, dass sie sich noch einmal so fühlen sollte. Er hätte ihr erklären sollen, was er tat. Stattdessen war er in alte Gewohnheiten zurückgefallen, das Schweigen und die Heimlichtuerei. Er legte einen Arm um sie. Als sie ihren Kopf an seine Schulter legte, wusste er, dass sie auf die Dokumente schielte. Er erklärte es ihr. »Ein Mann hat sich umgebracht. Ein ehemaliger Agent des mgb.«
»Jemand, den du kanntest?«
»Soweit ich mich erinnere, nicht.«
»Musst du der Sache nachgehen?«
»Selbstmord wird behandelt wie ...«
Sie unterbrach ihn. »Ich meine, musst ausgerechnet du der Sache nachgehen?«
Raisa wollte, dass er den Fall abgab und nichts mehr mit dem mgb zu tun hatte, noch nicht einmal indirekt. Er löste sich aus der Umarmung. »Der Fall wird nicht lange dauern.«
Sie nickte zögerlich, dann wechselte sie das Thema. »Die Mädchen sind im Bett. Liest du ihnen noch was vor? Vielleicht hast du ja auch keine Zeit.«
»Doch, die Zeit habe ich.«
Er schob die Dokumente zurück in ihre Ordner. Im Vorbeigehen beugte er sich vor, um seine Frau zu küssen, doch sie wehrte sanft mit dem Finger ab und sah ihm in die Augen. Sie sagte nichts. Dann erst nahm sie ihren Finger weg und küsste ihn - ein Kuss, der ihm vorkam, als nehme sie ihm unverbrüchlichste Versprechen ab.
Als er ihr Schlafzimmer betrat, wollte er die Akten verstecken, eine alte Gewohnheit. Dann besann er sich eines Besseren und ließ sie für Raisa auf dem Beistelltisch liegen, für den Fall, dass sie sie lesen wollte. Danach eilte er durch den Flur zurück ins Zimmer seiner Töchter und versuchte dabei, die Anspannung aus seinem Gesicht zu verbannen. Mit einem breiten Lächeln öffnete er die Tür.
Leo und Raisa hatten zwei kleine Schwestern adoptiert. Soja war mittlerweile vierzehn und Elena sieben. Leo trat an Elenas Bett, hockte sich auf die Ecke und holte ein Buch aus dem Regal, eine Kindergeschichte von Juri Strugazky. Er schlug es auf und fing an, laut vorzulesen.
Beinahe sofort unterbrach Soja ihn. »Die kennen wir schon.«
Sie zögerte einen Moment, doch dann fügte sie hinzu: »Und wir fanden sie schon beim ersten Mal blöd.«
Die Geschichte ging über einen Jungen, der Bergmann werden wollte. Der Vater des Jungen, ebenfalls ein Bergmann, war bei einem Unfall umgekommen, und die Mutter des Jungen hatte nun Angst, dass auch ihr Sohn diesen gefährlichen Beruf ergreifen wollte. Soja hatte recht, Leo hatte die Geschichte schon einmal vorgelesen. Verächtlich fasste sie den Inhalt zusammen. »Der Sohn gräbt am Ende mehr Kohle als je ein Mensch zuvor, wird ein Volksheld und widmet den Preis seinem Vater.«
Leo klappte das Buch zu. »Du hast recht. Nur eins, Soja. Zu Hause kannst du immer alles sagen, was du willst, aber draußen sei bitte vorsichtiger. Es ist gefährlich, kritische Meinungen zu äußern, selbst bei so etwas Harmlosem wie einer Kindergeschichte.«
»Willst du mich etwa verhaften?«
Soja hatte Leo nie als ihren Vormund akzeptiert. Ebenso wenig hatte sie ihm je den Tod ihrer Eltern vergeben. Leo bezeichnete sich nicht als Vater der beiden, und Soja nannte ihn höchst formell Leo Demidow, sie verhielt sich so distanziert, wie es nur ging. Keine Gelegenheit ließ sie aus, ihn daran zu erinnern, dass sie nur aus praktischen Erwägungen bei ihm lebte und ihn als Mittel zum Zweck betrachtete. Er bot ihrer kleinen Schwester materielle Annehmlichkeiten und ersparte ihr das Waisenhaus. Trotzdem achtete Soja peinlich darauf, sich von nichts beeindrucken zu lassen, nicht von der Wohnung, nicht von Ausflügen oder Landpartien und auch nicht von den guten Mahlzeiten. Sie war schön, aber streng, wirkte beinahe hart. Immerwährende Kümmernis schien ihr ein großes Bedürfnis zu sein. Es gab nur wenig, was Leo tun konnte, damit sie davon loskam. Er hoffte, dass ihr Verhältnis sich irgendwann einmal langsam bessern würde. Wenn es nötig war, würde er bis in alle Ewigkeit darauf warten.
»Nein, Soja, solche Sachen mache ich nicht mehr. Und ich werde sie auch nie mehr machen.«
Leo griff ins Regal und holte eines von den Detskaja Literatu ra -Magazinen heraus, die für Kinder im ganzen Land gedruckt wurden. Bevor er anfangen konnte, unterbrach ihn
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