Kolyma
weiter, das Wasser troff aus seinen Rockschößen.
Es dauerte nicht lange, und er fiel wieder hin. Diesmal fing er an zu heulen, verzweifelte, erschöpfte Schluchzer. Er drehte sich auf den Rücken und riss sich den Mantel vom Leib, der mittlerweile viel zu schwer war. Vor vielen Jahren hatte er ihn in einem der Nomenklatura vorbehaltenen Geschäfte gekauft. Wie stolz er darauf gewesen war, ein Zeichen seines Status. Jetzt brauchte er ihn nicht mehr. Er würde nie wieder das Haus verlassen, er würde daheim bleiben, die Tür abschließen und die Vorhänge zuziehen.
Nikolai erreichte seinen Wohnblock und betrat hechelnd und schwitzend den Flur. Dreckwasser tropfte aus seinen Kleidern. Klatschnass stand er an die Wand gedrückt da, sein Körper hinterließ einen Abdruck an der Mauer. Er lugte auf die Straße in der Hoffnung, einen Blick auf seine Verfolger erhaschen zu können. Als er niemanden entdecken konnte - was für durchtriebene Typen! -, kraxelte er die Treppe hinauf, rutschte dabei aus und kroch auf allen vieren weiter. Je näher er seinem Heim kam, desto mehr beruhigte er sich. Hinter diesen Wänden konnten sie ihn nicht kriegen, nicht in seiner Zuflucht. Als hätte er ein nervenstärkendes Tonikum zu sich genommen, konnte er plötzlich wieder klar denken. Er war betrunken. Er hatte überreagiert, mehr nicht. Natürlich hatte er sich im Laufe der Jahre Feinde gemacht, Leute, die einen Groll gegen ihn hegten und ihm seinen Erfolg neideten. Wenn sie nichts weiter ausrichten konnten, als ihm ein paar Fotos zu schicken, brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Die Mehrheit - die Gesellschaft - achtete und schätzte ihn. Auf dem Treppenabsatz atmete Nikolai tief durch und kramte nach seinem Schlüssel.
Draußen vor seiner Wohnungstür lag ein Päckchen, etwa dreißig Zentimeter lang, zwanzig breit und zehn hoch. Es war in Packpapier gewickelt und fest verschnürt. Auf dem Papier stand kein Name, keine Anschrift, nur eine Tuschezeichnung - ein Kruzifix. Nikolai sank auf die Knie. Mit zitternden Händen löste er die Schnur. In dem Päckchen befand sich eine Schachtel. Auf dem Deckel stand:
nicht für pressezwecke
Er nahm den Deckel ab. Diesmal waren es keine Fotos. Stattdessen fand Nikolai einen säuberlichen Stapel bedruckter Papierbögen. Ein richtiges Dokument, etwa hundert Seiten dick. Obenauf lag ein Begleitschreiben. Nikolai nahm es hoch und überflog es. Es war nicht an ihn gerichtet, sondern ein offizieller behördlicher Brief mit der Anweisung, dass diese Rede an jede Schule, jede Fabrik, jede Arbeiter- und Jugendvereinigung im ganzen Land verteilt werden solle. Aufmerksam las Nikolai die erste Seite. Er schüttelte den Kopf. Das konnte doch einfach nicht sein! Es war eine Lüge, ein heimtückisches Machwerk, das ihn in den Wahnsinn treiben sollte. Nie und nimmer hätte der Staat so etwas veröffentlicht. Nie und nimmer würden sie ein solches Dokument unter die Leute bringen. Das war unmöglich.
unschuldige opfer folter
Solche Worte konnten einfach nicht schwarz auf weiß gedruckt und unter ausdrücklicher Billigung des Staates an alle Schulen und Fabriken verteilt werden. Wenn er den erwischte, der diese zugegebenermaßen gut informierte Falschmeldung lanciert hatte, würde er ihn hinrichten lassen.
Unwillkürlich knüllte Nikolai die Seite zusammen, die er gerade gelesen hatte, und warf sie weg. Dann riss er die nächste und übernächste Seite in kleine Schnipsel und schleuderte sie ebenfalls weg. Er hörte auf, krümmte sich und rollte sich zusammen, sein Kopf lag auf den noch ungelesenen Seiten.
»Das kann einfach nicht wahr sein«, murmelte er.
Ganz undenkbar. Und doch waren die Seiten da, sogar mit einem offiziellen Begleitschreiben samt Siegel. Informationen, die nur die Behörden wissen konnten, sogar mit Quellen, Zitaten und Verweisen. Das Schweigekomplott, von dem Nikolai angenommen hatte, es würde ewig halten, war gebrochen. Das hier war kein Trick.
Die Rede war echt.
Ohne auf die verstreuten Papierfetzen zu achten, rappelte Nikolai sich hoch, schloss die Tür auf und betrat seine Wohnung. Die Rede ließ er im Hausflur liegen. Es spielte keine Rolle mehr, ob er die Tür hinter sich verschloss und die Vorhänge zuzog. Sein Zuhause war kein Zufluchtsort mehr. Es gab überhaupt keine Zuflucht mehr. Bald würden alle es wissen, jeder Schuljunge und jeder Fabrikarbeiter. Und sie würden es nicht nur wissen, sie würden offen darüber reden dürfen und aufgefordert werden, die Sache
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