Kolyma
er im Türeingang. Als er Leo kommen sah, stand er auf. Sein Wintermantel war von einem guten Schneider, vielleicht sogar von einem ausländischen, mittlerweile aber vernachlässigt und abgetragen. Das Hemd war hochgerutscht, seine Wampe quoll hervor. Nikolai war dicker und kahler geworden. Er sah alt und müde aus, das Gesicht von Sorgen zerfurcht, die Augen zusammengekniffen. Dass er nach Rauch, Schweiß und Schnaps stank, war trotz des allgegenwärtigen Back- und Teiggeruchs unangenehm deutlich zu riechen. Leo reichte ihm die Hand. Nikolai schob sie weg und warf stattdessen die Arme um ihn, als sei er gerade von einem Berggipfel gerettet worden. In seiner Umklammerung lag etwas Erbarmungswürdiges. Und das von einem Mann, dessen Erbarmungslosigkeit früher legendär gewesen war.
Plötzlich fiel Leo die Kerbe in der Holzdiele wieder ein. Warum hatte er die eigentlich vergessen? Weil sie unwichtig war, deshalb! Die konnte von wer weiß was stammen. Vielleicht war sie schon länger da, so etwas fiel einem ja nicht unbedingt auf, irgendein Kratzer vom Möbelrücken. Doch die Kerbe war frisch gewesen, und wenn Leo ehrlich war, wusste er, dass das Messer und die Kerbe etwas miteinander zu tun hatten.
Nikolai hatte angefangen zu sprechen, er lallte. Leo achtete kaum auf seine Worte, nickte nur hin und wieder, während er die Tür zum Dezernat aufschloss und seinen Gast in sein Büro führte.
Als sie einander gegenübersaßen, presste Leo die Hände aneinander und stemmte die Ellbogen auf den Schreibtisch. Er registrierte zwar, dass Nikolai sprach, hörte aber gar nicht richtig zu, weil seine Gedanken immer wieder abschweiften. Hier und da bekam er etwas mit. Jemand schickte Nikolai Fotos.
»Leo, das sind Fotos von denen, die ich damals verhaftet habe!«
Aber für das Geschwafel des anderen war in Leos Kopf kein Platz. Eine einzige, entsetzliche Erkenntnis machte sich gerade in ihm breit und ließ keinem anderen Gedanken Raum. Das Messer war fallen gelassen worden und hatte sich mit der Spitze kurz in den Boden gebohrt, bevor es unters Bett geschlittert war. Und zwar war es, von wem auch immer, aus Panik fallen gelassen worden, aus Schreck über ein plötzliches Geräusch - einen unerwarteten Telefonanruf. Die betreffende Person war aus dem Zimmer geflohen und hatte die Tür offen gelassen, weil sie sie in der Eile nicht mehr hatte schließen können.
SIE
Selbst jetzt noch, wo er alle Puzzleteile zusammengelegt hatte, fiel es ihm schwer, die einzige logische Erklärung gelten zu lassen; dass die mit dem Messer Soja gewesen war.
Er sprang hoch, ging zum Fenster und riss es auf. Kalte Luft schlug ihm entgegen. Er wusste nicht, wie lange er so da gestanden und in den nächtlichen Himmel hinausgestarrt hatte, als er plötzlich hinter sich einen Laut vernahm und ihm wieder einfiel, dass er ja nicht allein war. Er wandte sich um und wollte sich gerade entschuldigen, schluckte den Satz aber hinunter. Nikolai, der Mann, der ihm beigebracht hatte, dass Grausamkeit eine Notwendigkeit, etwas Gutes war, heulte.
»Du hast mir nicht mal zugehört, Leo!«
Mit tränenüberströmten Wangen fing Nikolai auf einmal an zu lachen, was Leo unwillkürlich an ihre gemeinsamen Trinkgelage nach den Verhaftungen erinnerte. Aber heute Abend klang Nikolais Lachen anders. Tönern. Die ganze überhebliche Prahlerei war weg. »Du willst alles vergessen. Stimmt's, Leo? Kann ich dir nicht verdenken. Ich würde wer weiß was geben, wenn ich das alles vergessen könnte. Was für eine wunderbare Vorstellung ...«
»Tut mir leid, Nikolai, aber ich habe etwas anderes im Kopf. Eine Familienangelegenheit.«
»Dann hast du meinen Rat also befolgt ... eine Familie, das ist gut. Die Familie ist das Wichtigste. Was wäre ein Mann ohne die Liebe seiner Familie?«
»Können wir morgen weiterreden? Wenn wir ausgeruhter sind?«
Nickend stand Nikolai auf. An der Tür blieb er noch einmal stehen und blickte zu Boden. »Ich ... schäme mich.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken. Jeder trinkt doch schon mal zu viel. Wir reden morgen weiter.«
Nikolai starrte ihn an. Leo erwartete, dass er wieder loslachen würde, aber diesmal drehte Nikolai sich um und lief zur Treppe.
Leo war froh, endlich allein zu sein und nachdenken zu können. Es hatte keinen Zweck, sich länger etwas vorzumachen. Er war für Soja die allgegenwärtige Erinnerung an ihren entsetzlichen Verlust. Er hatte nie mit ihr darüber gesprochen, was an jenem Tag geschehen war. Das Messer war ein
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