Kolyma
nehme das Laken mit.«
Sie schüttelte den Kopf und klammerte sich an das vollgepinkelte Bettzeug, als würde das sie vor ihm schützen. Mittlerweile war Elena aufgewacht, sie weinte.
Leo wandte sich zur Tür und drehte sich dann doch noch einmal um. Er konnte sie doch nicht einfach so liegen lassen. Wie sollte er das Problem lösen, wenn er selbst das Problem war?
»Ich will dich doch nur lieb haben, Soja.«
Elena sah von Soja zu Leo. Dass sie wach war, bewirkte eine Veränderung in Soja. Langsam gewann sie die Fassung zurück und erklärte Leo ruhig: »Ich wasche die Laken aus. Ich mache es selbst. Ich brauche deine Hilfe nicht.«
Leo ging aus dem Zimmer und ließ das kleine Mädchen, das er für sich einzunehmen gehofft hatte, mit seinem Urin und seinen Tränen allein.
* * *
Er ging in die Küche und lief dort auf und ab, vollkommen verzweifelt. Die Akten hatte er zwar weggeräumt, doch das Blatt aus Moskwins Setzmaschine lag noch da wie zuvor.
Unter Folter hatte Eikhe
Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Eine Erinnerung an seine frühere Tätigkeit, die ihn auf ewig wie ein Schatten verfolgen würde. Sojas Reaktion im Kinderzimmer fiel ihm wieder ein. Zum ersten Mal sah Leo sich gezwungen, eine Möglichkeit ins Auge zu fassen, die noch vor ein paar Minuten undenkbar für ihn gewesen wäre. Vielleicht musste man die Familie wieder auseinanderreißen.
War sein Wunsch, sie auf Biegen und Brechen zusammenzuhalten, zur blinden Besessenheit geworden? Er zwang Soja dazu, immer wieder am Schorf zu kratzen. So würde die Wunde niemals heilen und sich nur vor Hass und Bitterkeit entzünden. Und wenn Soja nicht mit ihm zusammenleben konnte, dann konnten sie Elena auch nicht behalten. Die beiden Schwestern waren doch unzertrennlich. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als ein neues Elternhaus für sie zu suchen, eines ohne Verbindungen zum Staat, vielleicht außerhalb Moskaus in einer kleineren Stadt, wo der Machtapparat nicht so allgegenwärtig war. Raisa und er würden nach passenden Pflegeeltern suchen müssen, mögliche Kandidaten treffen und sich dabei fragen müssen, ob die es wohl besser machen würden, ob sie die Mädchen glücklich machen würden. Leo hatte bei dem Versuch ja jämmerlich versagt.
Raisa erschien in der Tür. »Was ist los?«
Sie war aus dem Schlafzimmer gekommen. Von der Bettnässerei und seinem Gespräch mit Soja wusste sie nichts, ihre Frage bezog sich auf Nikolai, dessen Anruf und das mitternächtliche Treffen. Leo brach fast die Stimme vor Niedergeschlagenheit. »Nikolai war betrunken. Ich habe ihm gesagt, dass wir weiterreden, wenn er wieder nüchtern ist.«
»Und das hat die ganze Nacht gedauert?«
Worauf wartete er eigentlich? Er sollte sie bitten, sich hinzusetzen, und alles erzählen.
»Leo, was ist los?«
Keine Geheimnisse mehr, das hatte er ihr versprochen. Aber er konnte doch nicht zugeben, dass er sich drei Jahre lang abgemüht hatte, ein guter Vater zu sein, nur um jetzt nichts weiter vorzuweisen zu haben als Sojas Hass. Er konnte doch nicht zugeben, dass er sie mitten in der Nacht geweckt und erbärmlich angefleht hatte, ihr Vater sein zu dürfen. Leo hatte Angst. Wenn man die Familie trennte, dann würde Raisa sich vielleicht fragen, auf welcher Seite sie eigentlich stehen wollte. Würde sie bei den Mädchen bleiben oder bei ihm? In seiner Zeit als Agent des MGB hatte sie ihn und alles, was er verkörperte, verabscheut. Elena und Soja dagegen hatte sie von Anfang an grenzenlos geliebt. Ihre Liebe zu ihm war kompliziert. Ihre Liebe für die beiden war einfach. Und wenn sie sich entscheiden musste, dann fiel ihr vielleicht wieder der Mann ein, der er eigentlich war, der er jedenfalls einmal gewesen war. Seine Beziehung zu Raisa hing davon ab, dass er sich als guter Vater erwies, da war er sich sicher. Und zum ersten Mal nach drei Jahren log er sie an. »Nichts ist los. Es war nur ein Schock, Nikolai wiederzusehen, das ist alles.«
Raisa nickte. Sie schaute in den Flur hinaus. »Sind die Mädchen wach?«
»Sie sind wach geworden, als ich zurückkam. Tut mir leid. Ich habe mich bei ihnen entschuldigt.«
Raisa wies auf die Seite, die er aus der Setzmaschine gezogen hatte. »Die räumst du wohl besser weg, bevor die Mädchen sich an den Tisch setzen.«
Leo nahm das Blatt und brachte es in ihr Schlafzimmer. Er hockte sich aufs Bett und beobachtete voller Angst, wie Raisa die Küche verließ, um den Mädchen guten Morgen zu sagen. Ihm war beinahe schlecht vor
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