Kolyma
weinen und ihm versichert, dass sie den Umschlag nur zur sicheren Verwahrung auf den Nachttisch gelegt hatten. Nikolai hatte die Angst in ihren Augen gesehen, und es hatte ihm das Herz gebrochen. In diesem Moment hatte er beschlossen, Leo um Hilfe zu bitten. Der Staat musste diese Verbrecher fassen, die ihm so sinnlos nachstellten. Jahrelang hatte er seinem Land gedient. Er war ein Patriot. Er hatte es sich verdient, in Ruhe gelassen zu werden. Leo konnte ihm helfen, der hatte eine ganze Mannschaft von Ermittlern an der Hand. Schließlich war es in ihrem gemeinsamen Interesse, diese Konterrevolutionäre zu fassen. Wie in den alten Zeiten. Nur hatte Leo gar nichts davon wissen wollen.
Die Frühschicht kam bereits in der Bäckerei an. Die Leute blieben stehen und starrten im Eingang auf Nikolai. »Was ist los?«, schnauzte er sie an.
Sie gaben keine Antwort, sondern warteten nur zusammengedrängt ein paar Meter von ihm entfernt, aus Angst, an ihm vorbeizugehen.
»Brecht ihr etwa den Stab über mich?«
Ihre Gesichter waren ausdruckslos. Die Gesichter von Männern und Frauen, die das Brot für die Stadt backen wollten. Er musste zusehen, dass er nach Hause kam, an den einzigen Ort, wo man ihn liebte und seine Vergangenheit keine Rolle spielte.
Er wohnte nicht weit weg. Während er durch die verlassenen Straßen torkelte, hoffte er nur, dass in seiner Abwesenheit kein weiteres Päckchen mit Fotografien angekommen war. Nikolai blieb stehen, sein Atem ging flach und schwer wie der eines alten, kranken Hundes. Aber da war noch etwas, ein Geräusch. Nikolai wandte sich um und spähte hinter sich. Das waren doch Schritte, das harte Tapp Tapp von Absätzen auf dem gepflasterten Bürgersteig. Er wurde verfolgt. Nikolai taumelte in den Schatten hinein und stierte angestrengt nach irgendwelchen Gestalten. Sie waren hinter ihm her, seine Feinde stellten ihm nach, jagten ihn so, wie er einst sie gejagt hatte.
Jetzt rannte er, nur noch nach Hause, so schnell es ging. Er geriet ins Stolpern, fing sich wieder, der Mantel schlug ihm um die Fußknöchel. Urplötzlich blieb er stehen und wirbelte herum. Er würde sie schon kriegen, er kannte die Tricks. Es waren seine Tricks. Sie gingen mit seinen eigenen Methoden gegen ihn vor. Nikolai starrte in finstere Ecken und düstere Nischen, gute Verstecke, die er die MGB-Rekruten zu nutzen gelehrt hatte.
»Ich weiß, dass ihr da seid«, rief er laut.
Seine Stimme hallte auf der scheinbar leeren Straße wider. Ein Laie hätte sie wirklich für leer gehalten, aber Nikolai kannte sich da aus. Doch seine trotzige Gegenwehr hielt nicht lange an. »Ich habe Kinder. Zwei Töchter, die mich lieben. Die verdienen das nicht. Wenn ihr mich verletzt, dann verletzt ihr auch sie.«
Seine Kinder waren noch während seiner Zeit beim MGB geboren worden. Jeden Abend kam er, nachdem er tagsüber Väter und Mütter, Söhne und Töchter verhaftet hatte, nach Hause und gab seiner Familie vor dem Schlafengehen einen Kuss. »Was ist denn mit all den anderen? Es gibt doch Millionen andere! Wenn ihr uns alle umbringen wolltet, wäre ja gar niemand mehr übrig. Wir haben doch alle mit dringesteckt.«
Leute erschienen an den Fenstern, sein Geschrei hatte sie angelockt. Egal auf welches Gebäude er zeigte, auf welches Haus, in jedem befanden sich ehemalige Agenten und Gefängniswärter. Auf die Männer und Frauen in Uniform kam man vielleicht zuerst. Aber da gab es doch auch noch die Zugführer, die die Gefangenen in die Gulags brachten. Die Schreibtischhengste, die die Dokumente abstempelten. Das Küchen- und Reinigungspersonal. Das System verlangte die stillschweigende Zustimmung aller, selbst wenn sie nur zustimmten, nichts zu tun. Nichts zu tun reichte schon. Das System war auf fehlenden Widerstand ebenso angewiesen wie auf Freiwillige. Nikolai würde hier nicht den Sündenbock abgeben. Er war nicht der allein Verantwortliche. Jeder trug mit an der kollektiven Schuld. Zu gelegentlicher Reue war er ja bereit, und bestimmt eine Minute am Tag dachte er über die schrecklichen Dinge nach, die er getan hatte. Aber den Leuten, die hinter ihm her waren, reichte das nicht. Sie wollten mehr.
Voller Angst machte Nikolai kehrt und rannte los, diesmal verzweifelt und so schnell er nur konnte. Er verfing sich in seinem Mantel, stolperte und klatschte in den matschigen Schnee. Seine Kleider sogen sich mit Dreckwasser voll. Mühsam rappelte er sich wieder auf. Sein Knie pochte, seine Hose war zerrissen. Nikolai rannte
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