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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Schrei nach Hilfe. Wenn er seine Familie retten wollte, musste er etwas tun. Er konnte die Sache ins Lot bringen. Mit Soja reden, das war die Lösung. Er musste sofort mit ihr reden.

    Am selben Tag

    Nikolai trat nach draußen, seine Stiefel drückten sich in die dünne Schneedecke. Es fröstelte ihn am Bauch, und er stopfte sich das Hemd in die Hosen. Er konnte kaum klar sehen und schwankte wie an Deck eines Bootes. Warum hatte er Leo eigentlich angerufen? Was hatte er sich denn von seinem ehemaligen Schützling erhofft? Vielleicht hatte er einfach nur ein wenig Gesellschaft gesucht und nicht nur die Gesellschaft eines anderen Betrunkenen. Er war gekommen, um mit einem Menschen zusammen zu sein, der die gleiche Scham verspürte wie er - einem, der ihn nicht verurteilen konnte, ohne sich gleichzeitig mitzuverurteilen.

    ich schäme mich.

    Leo hätte diese Worte besser als jeder andere verstehen müssen. Die geteilte Scham hätte sie einander nahebringen und zu Brüdern machen sollen. Leo hätte ihn umarmen und sagen sollen: Ich auch. Hatte er die eigene Vergangenheit so leicht vergessen? Nein, sie beide gingen nur unterschiedlich damit um. Leo hatte eine neue, ehrbare Laufbahn eingeschlagen und seine blutverschmierten Hände in warmer, sauberer Achtbarkeit gewaschen. Nikolais Methode war gewesen, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken, nicht aus Lust, sondern um die Erinnerung zu ertränken.
    Irgendjemand wollte aber nicht, dass die Erinnerung aufhörte. Und schickte ihm Fotos von Männern und Frauen vor einer weißen Wand - zurechtgeschnitten, sodass man nur noch die Gesichter sehen konnte. Erst hatte er die Abgebildeten nicht erkannt, obwohl ihm sofort klar gewesen war, dass es Verhaftungsfotos waren, so wie die Gefängnisbürokratie sie verlangte. Die Fotos kamen nacheinander, erst wöchentlich, mittlerweile wurde täglich ein Umschlag bei ihm zu Hause abgegeben. Beim Durchsehen waren ihm irgendwann wieder die Namen eingefallen und die Wortwechsel - löchrige Erinnerungen, eine verworrene Collage aus der Verhaftung des einen Bürgers, dem Verhör eines anderen und der Exekution eines dritten. Als immer mehr Fotos ankamen und er irgendwann den ganzen Haufen in der Hand hielt, hatte er sich gefragt, ob er wirklich so viele Menschen verhaftet hatte. Dabei wusste er, dass es in Wahrheit noch viel mehr gewesen waren.
    Nikolai hätte gerne seine Untaten gestanden und um Vergebung gebeten. Allein, eine Aufforderung, sich zu entschuldigen, kam ebenso wenig wie Anweisungen über die Buße. Der erste Umschlag hatte seinen Namen getragen. Seine Frau hatte ihn gebracht, und nichtsahnend hatte er ihn vor ihr geöffnet. Als sie gefragt hatte, was er enthielt, hatte er gelogen und die Fotografien vor ihr verborgen. Von da an war er gezwungen gewesen, die Briefe heimlich aufzumachen. Auch nach zwanzig Jahren Ehe ahnte Nikolais Frau immer noch nichts von seiner Arbeit. Sie wusste nur, dass er Beamter bei der Geheimpolizei war, sonst aber nicht viel. Vielleicht schaute sie aber auch ganz bewusst nicht genauer hin. Ob aber nun bewusst oder nicht, auf jeden Fall lag ihm viel an ihrer Unwissenheit - alles hing davon ab. Wann immer er in ihre Augen blickte, sah er darin nur bedingungslose Liebe. Wenn sie etwas gewusst hätte, wenn sie die Gesichter der Leute gesehen hätte, die er verhaftet hatte, wenn sie dieselben Gesichter dann nach zweitägigem Verhör gesehen hätte, dann hätte in ihren Augen die Angst gelauert. Das Gleiche galt für seine Töchter. Sie lachten und flachsten mit ihm herum. Sie liebten ihn so, wie er sie liebte. Er war ein guter Vater, aufmerksam und geduldig. Nie brüllte er, und zu Hause rührte er keinen Tropfen an. Zu Hause war er immer noch ein guter Mensch.
    Jemand wollte ihm das wegnehmen. In den letzten beiden Tagen hatte auf den Umschlägen nicht mehr sein Name gestanden. Jeder hätte sie aufmachen können, seine Frau oder seine Töchter. Mittlerweile hatte Nikolai Angst, aus dem Haus zu gehen, für den Fall, dass in seiner Abwesenheit etwas ankam. Er hatte seiner Familie das heilige Versprechen abgenommen, ihm jede Post zu bringen, ob sein Name draufstand oder nicht. Gestern war er ins Zimmer seiner Töchter gekommen und hatte auf dem Nachttisch einen unadressierten Brief gefunden. Zum ersten Mal hatte er sich vergessen und war außer sich geraten vor Wut. Er hatte die Mädchen angebrüllt, ob sie den Umschlag aufgemacht hatten. Verstört über seine plötzliche Verwandlung hatten sie angefangen zu

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