Kolyma
Partei der Sowjetunion.
Es war der erste Parteitag seit dem Tod Stalins. Raisa erinnerte ihre Klasse daran, dass die kommunistische Revolution eine weltweite Bewegung war und zu solchen Kongressen nicht nur sowjetische Führer kamen, sondern auch die Abgesandten der Arbeiterparteien anderer Länder. Sie wappnete sich für eine Stunde voller Plattitüden und Selbstbeweihräucherungen und hoffte dabei inständig, dass Soja den Tag überstehen würde, ohne dass es Ärger gab.
Sehr schnell jedoch kehrte Raisas Aufmerksamkeit wieder zu dem Text zurück, den sie gerade vorlas. Das war beileibe keine normale Rede. Sie fing auch gar nicht erst mit den üblichen Aufzählungen aufsehenerregender sowjetischer Erfolge an. In der Mitte des vierten Absatzes unterbrach Raisa sich und umklammerte mit beiden Händen die Seiten. Sie konnte nicht fassen, was da stand. Die Klasse war mucksmäuschenstill. Mit unsicherer Stimme fuhr Raisa fort.
... Der Kult um die Person Stalins ist allmählich immer größer geworden. Ein Kult, der die Ursache wurde für eine ganze Reihe zunehmend ernster und schwerwiegender Pervertierungen der Parteiprinzipien, der Parteidemokratie und der revolutionären Rechtsprechung.
Staunend blätterte Raisa vor und fragte sich, ob da noch mehr kam. Still las sie weiter.
Die negativen Charakterzüge Stalins, die zu Lenins Zeiten noch schlummerten, führten in seinen letzten Jahren zu einem schwerwiegenden Machtmissbrauch ...
Raisa hatte ihr ganzes Berufsleben damit zugebracht, Propaganda für den Staat zu machen und ihre Schüler zu lehren, dass der Staat immer recht hatte, dass er gut und gerecht war. Wenn man Stalin nun vorwarf, dass er um seine Person einen Kult errichtet hatte, dann war Raisa dabei ein Werkzeug gewesen. Vor sich selbst hatte sie die Unwahrheiten damit gerechtfertigt, dass man den Schülern unbedingt die Sprache der Lobhudelei beibringen musste, ohne die sie sich unweigerlich verdächtig machen würden. Das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer basierte auf Vertrauen, und Raisa glaubte, dass sie dieses Prinzip auch aufrechterhalten hatte. Aber nicht in dem orthodoxen Sinne, dass sie ihnen die Wahrheit sagte, sondern indem sie ihnen die Wahrheiten beibrachte, die sie kennen mussten. Diese Worte stempelten sie nun zur Betrügerin. Sie sah auf. Die Schüler waren viel zu durcheinander, um derlei Spitzfindigkeiten sofort zu kapieren. Aber irgendwann würden sie das. Sie würden begreifen, dass Raisa nicht etwa ein leuchtendes Vorbild war, sondern nur eine Sklavin desjenigen, der sich eben gerade an der Macht befand.
Die Tür flog auf. Draußen stand Julia Peschkowa, eine Lehrerin. Ihr Gesicht war puterrot, der Mund stand ihr offen. Sie war offenbar so entsetzt, das sie keinen Ton herausbrachte.
Raisa stand auf. »Was ist denn los?«
»Komm schnell mit.«
Julia war Sojas Lehrerin. Panik überfiel Raisa. Sie klappte den Text zu und befahl ihrer Klasse, ruhig sitzen zu bleiben, dann folgte sie Julia, aus der sie noch nichts Vernünftiges herausbekommen hatte, durch den Flur und die Treppe hinunter.
»Was ist passiert?«
»Es ist Soja. Es ist wegen der Rede. Ich habe sie vorgelesen, und da ist sie ... sieh es dir lieber selbst an.«
Sie hatten Sojas Klassenzimmer erreicht. Julia trat zurück und ließ Raisa den Vortritt. Raisa öffnete die Tür. Soja war auf dem Lehrerschreibtisch, den sie an die Wand geschoben hatte. Alle anderen Schüler hatten sich am gegenüberliegenden Ende des Raumes so weit weg wie möglich zusammengedrängt, so als ob Soja eine ansteckende Krankheit hätte. Um Soja herum lagen verstreut die Seiten der Rede und einige Glasscherben. Stolz und triumphierend stand Soja da. Ihre Hände waren blutig. Sie hielten die Reste eines Plakats, das ein Bild von Stalin zeigte; darunter standen die Worte:
der vater aller kinder
Soja war auf den Tisch gestiegen, um an das Plakat heranzukommen. Sie hatte den Rahmen eingeschlagen und sich dabei in die Hand geschnitten. Dann hatte sie das Plakat entzweigerissen und das Stalinbild geköpft. Ihre Augen loderten siegestrunken. Sie hob die beiden mit ihrem Blut besudelten Plakathälften hoch, als seien sie die Leiche eines besiegten Feindes. »Mein Vater ist er nicht!«
Am selben Tag
Im Treppenhaus vor Nikolais Wohnung lagen die verstreuten Reste der Rede. Als Leo die zerrissenen Seiten sah und einen Blick auf ein paar der Worte warf, zog er seine Waffe. Timur hinter ihm folgte seinem Beispiel. Während das Papier unter
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