Kolyma
gehetzte, angespannte Gesichtsausdruck. Seit Jahren hatte sie ihn nicht mehr so gesehen, seit seiner Zeit bei der Staatssicherheit nicht, wenn er die ganze Nacht auf einem Einsatz gewesen und völlig erschöpft zurückgekehrt war, aber trotzdem nicht einschlafen konnte. Stattdessen war er in der Dunkelheit in irgendeiner Ecke zusammengesunken und hatte schweigend vor sich hingebrütet, so als würden die Ereignisse der vergangenen Nacht immer und immer wieder in seinem Kopf ablaufen wie eine endlose Filmrolle. In jener Zeit hatte er nie über seine Arbeit gesprochen, aber sie hatte trotzdem gewusst, was er machte: wahllos Leute verhaften. Insgeheim hatte sie ihn dafür gehasst.
Diese Zeiten waren vorbei. Leo hatte sich geändert, da war sie sich sicher. Immerhin hatte er sein Leben riskiert, um sein Geld nicht mehr mit mitternächtlichen Verhaftungen und erzwungenen Geständnissen zu verdienen. Der Apparat der Staatssicherheit existierte immer noch. Jetzt hieß er zwar KGB, aber er war immer noch im Leben jedes Einzelnen gegenwärtig. Leo allerdings hatte mit diesen Operationen nichts mehr zu tun, nachdem er einen hochrangigen Posten ausgeschlagen hatte. Stattdessen war er ein großes Risiko eingegangen und hatte seine eigene Ermittlungsabteilung aufgebaut. Jeden Abend erzählte er ihr, was der Arbeitstag gebracht hatte - zum Teil, weil ihm an ihrem Rat lag, zum Teil auch, weil er damit zeigen wollte, wie sehr sein Dezernat sich vom KGB unterschied. Vor allem aber, um ihr zu beweisen, dass es zwischen ihnen keine Geheimnisse mehr gab. Doch Raisas Bestätigung allein reichte ihm nicht. Wenn sie Leo mit den Mädchen erlebte, kam er ihr oft vor wie ein Verfluchter, wie eine Figur aus einem Kinderbuch, die nur mit dem Satz Ich liebe dich aus dem Munde ebendieser Mädchen aus dem dunklen Bann der Vergangenheit errettet werden konnte.
Trotz aller Enttäuschungen war es ihr nie vorgekommen, als sei er neidisch auf Raisas so ungezwungenes Verhältnis zu Elena und Soja, noch nicht einmal, wenn Soja ihn bewusst quälte, indem sie sich ihr offen mit Herzlichkeit zuwandte, ihn dagegen ihre Kälte spüren ließ. In den letzten drei Jahren hatte er jede Zurückweisung und Unfreundlichkeit über sich ergehen lassen, ohne auch nur einmal aus der Haut zu fahren. Alle Feindseligkeiten hatte er geschluckt, so als halte er sie für eine gerechte Strafe. In diese beiden Mädchen hatte er all seine Hoffnungen auf Vergebung gelegt. Soja wusste das und wehrte sich. Je mehr er um ihre Zuneigung buhlte, desto mehr hasste sie ihn. Es hätte keinen Zweck gehabt, wenn Raisa ihn auf diesen Zusammenhang hingewiesen oder ihm geraten hätte, etwas gelassener an die Sache heranzugehen. Das lag einfach nicht in seiner Natur. So fanatisch, wie er einst dem Kommunismus gehuldigt hatte, so fanatisch huldigte er jetzt seiner Familie. Seine Vision von Utopia war kleiner und weniger abstrakt geworden, jetzt umfasste sie nur noch vier Menschen und nicht mehr die ganze Welt. Aber erreichbarer geworden war sie dadurch nicht.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ZPkiO ein, eine Abkürzung des vollen Namens Zentralnili Park Kultury i Otdycha Imeni Gorkowo. Als die Mädchen die offizielle Ansage zum ersten Mal aus der Lautsprecheranlage hörten, hatten sie laut losgelacht, auch Soja, die mit dieser unerwarteten Absurdität nicht gerechnet hatte und unwillkürlich ein wunderschönes Lächeln preisgab, das sie bislang vor allen Blicken verborgen hatte. In diesem Moment konnte Raisa einen flüchtigen Blick auf das Kind erhaschen, das es jetzt nicht mehr gab, verspielt und ausgelassen. Innerhalb von Sekunden war das Lächeln wieder verschwunden, und als Raisa das sah, schmerzte sie das sehr. Auch für sie waren hier schließlich starke Emotionen im Spiel. Da sie selbst keine Kinder bekommen konnte, war eine Adoption ihre einzige Chance gewesen, Mutter zu sein. Leo mochte vielleicht von der Geheimpolizei ausgebildet worden sein, ihr Inneres verbergen konnte sie trotzdem erheblich besser als er. Sie hatte eine taktische Entscheidung getroffen und von Anfang an darauf geachtet, dass die Mädchen nicht ständig spürten, wie wichtig sie ihr waren. So war sie mit ihnen ohne viel Aufhebens und Tamtam umgegangen und hatte sich im Wesentlichen um die alltäglichen Dinge gekümmert: Schule, Kleider, Essen, Ausflüge, Hausaufgaben. Doch auch wenn Leo und sie unterschiedlich mit der Situation umgingen, hatten sie doch beide denselben Traum: den Traum einer liebevollen, glücklichen
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