Kolyma
dass sie bei dir bleibt.«
»Das wird sie auch. Ihr beide. Das ist doch klar. Ich habe euch sehr lieb.« Raisa hatte noch nie gewagt, diesen Satz auszusprechen.
Soja musterte sie. »Ich wäre glücklich ... wenn ich nur mit dir zusammenleben könnte.«
So hatten sie noch nie miteinander gesprochen. Raisa musste behutsam sein. Wenn sie jetzt das Falsche sagte, die falsche Antwort gab, dann würde Soja sich wieder verschließen, und Raisa bekam vielleicht nie wieder so eine Gelegenheit. »Was möchtest du denn, dass ich tue?«
Soja dachte nach. »Verlass Leo.«
Ihre wunderschönen Augen waren so groß und schienen jede Einzelheit an Raisas Reaktion genau zu registrieren. In Sojas Gesicht spiegelte sich ihre ganze Hoffnung, dass sie Leo nie mehr wiedersehen musste. Sie verlangte nichts anderes von Raisa, als sich von Leo scheiden zu lassen. Woher hatte sie überhaupt von so etwas wie Scheidung gehört? Darüber sprach doch kaum einer. Die ursprünglich tolerante Haltung des Staates in dieser Frage hatte sich unter Stalin verhärtet. Scheidungen waren fortan schwieriger, teuer und schlecht angesehen. Früher hatte Raisa oft über ein Leben ohne Leo nachgedacht. Hatte Soja irgendwelche Überbleibsel dieser Verbitterung gespürt und daraus eine Hoffnung abgeleitet? Hätte sie überhaupt gewagt zu fragen, wenn sie nicht glaubte, dass Raisa möglicherweise Ja sagen würde?
»Soja ...«
Einerseits verspürte Raisa das heftige Verlangen, diesem Mädchen alles zu geben, was es nur wollte. Andererseits war Soja noch jung und brauchte eine leitende Hand. Sie konnte nicht einfach irgendwelche absurden Forderungen stellen und dann auch noch erwarten, dass sie erfüllt wurden.
»Leo hat sich geändert. Lass uns heute Abend mal darüber reden, du, ich und er.«
»Ich will nicht mit ihm reden. Ich will ihn überhaupt nicht sehen. Ich will seine Stimme nicht hören. Ich will, dass du ihn verlässt.«
»Aber Soja ... ich liebe ihn.«
Alle Hoffnung wich aus Sojas Gesicht. Ihr Ausdruck verhärtete sich. Ohne ein weiteres Wort rannte sie los, ließ Raisa stehen und eilte durch das Haupttor.
Raisa sah Soja nach, wie sie in der Schule verschwand. Ihr hinterlaufen konnte sie nicht. Vor den anderen Schülern hätte sie nicht mit ihr sprechen können, und es war ohnehin zu spät. Soja würde schweigen und keine Antwort mehr geben. Der günstige Moment, die Gelegenheit war vorbei. Raisa hatte ihre Antwort gegeben - Ich liebe ihn. Mit grimmiger Gefasstheit hatte Soja die Worte hingenommen, wie eine zum Tode Verurteilte, deren Richterspruch gerade bestätigt worden war. Während Raisa das Schulgelände betrat, verfluchte sie sich innerlich für ihre so eindeutige Antwort. Ohne auf die Schüler und Lehrer zu achten, an denen sie vorbeikam, dachte sie über Sojas Traumvorstellung nach - ein Leben ohne Leo.
Als sie fahrig und durcheinander das Lehrerzimmer des Schulgebäudes betrat, konnte sie sich immer noch nicht richtig konzentrieren. Sie fand ein Päckchen, das man für sie hinterlegt hatte und dem ein Brief beilag. Sie riss ihn auf und überflog ihn. Er wies sie an, das beiliegende Dokument allen Schülern in allen Altersstufen vorzulesen.
Der Brief kam vom Bildungsministerium. Raisa riss das Packpapier ab, in das das Päckchen gewickelt war, und warf einen Blick auf den Deckel.
nicht für pressezwecke
Sie nahm den Deckel ab und holte einen dicken Stapel ordentlich gedruckter Blätter heraus. Als Politiklehrerin erhielt sie regelmäßig Material, das sie an ihre Schüler weitergeben musste. Als sie das Begleitschreiben in den Papierkorb warf, sah sie, dass der schon voll war mit weiteren Exemplaren des Briefes. Offenbar hatten alle Lehrer ihn bekommen, und jeder Klasse wurde die Rede vorgelesen. Weil sie spät dran war, nahm Raisa die Schachtel und eilte hinaus.
Als sie in ihrer Klasse ankam, stellte sie fest, dass die Schüler miteinander quatschten und ihr Zuspätkommen weidlich auskosteten. Es waren dreißig, zwischen fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Viele von ihnen unterrichtete sie schon, seit sie vor drei Jahren an diese Schule gekommen war. Sie legte die Schachtel auf den Schreibtisch und erklärte ihnen, dass sie heute eine Rede von ihrem Genossen Vorsitzenden Chruschtschow hören würden. Sie wartete, bis der Applaus abgeebbt war, dann begann sie, laut vorzulesen.
Sonderbericht des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, Generalsekretär der Kommunistischen
Weitere Kostenlose Bücher