Kolyma
aufgebracht. »Was für ein Feigling!«
Leo nickte. Das stimmte. Er war zu feige gewesen, um sich der Ablehnung zu stellen. Nikolais Leben war seine Familie gewesen. Ohne sie konnte er nicht leben. Aber sterben konnte er auch nicht ohne sie.
Leo hob ein Blatt aus der Rede hoch und musterte es, als sei es ein Messer oder eine Pistole - auf jeden Fall eine höchst effektive Mordwaffe. Er hatte die Rede am Morgen, nachdem man sie ihm zugestellt hatte, gelesen. Der offen ausgesprochene Angriff hatte ihn schockiert, und er hatte eins sehr schnell begriffen: Wenn man ihm diese Rede geschickt hatte, dann hatte Nikolai sie auch erhalten. Das Ziel war klar: die Menschen, die für die aufgezählten Verbrechen verantwortlich waren.
Stapfende Schritte erfüllten den Hausflur. Der KGB war da.
Die Beamten, die die Wohnung betraten, musterten Leo mit offener Feindseligkeit. Er gehörte nicht mehr zu ihnen, hatte sich von ihnen abgewandt. Hatte sogar eine Beförderung abgelehnt, nur um sein Morddezernat zu leiten - ein Dezernat, dessen Schließung sie von Anfang an betrieben hatten. In den Augen dieser Leute, bei denen die Loyalität über allem anderen stand, war er das Schlimmste, was man sein konnte - ein Verräter.
Derjenige, der hier das Sagen hatte, war Leos Vorgesetzter Frol Panin, der im Innenministerium die Abteilung Verbrechensbekämpfung leitete. Er war um die fünfzig und gut aussehend, elegant gekleidet und charmant. Leo hatte zwar noch nie einen Hollywoodfilm gesehen, aber er konnte sich vorstellen, dass Panin jemand war, den sie dort spielen lassen würden. Der Mann sprach mehrere Fremdsprachen und war ein ehemaliger Botschafter, der Stalins Herrschaft überlebt hatte, weil er sich immer im Ausland befunden hatte. Man sagte ihm nach, dass er keinen Alkohol trank, jeden Tag Sport trieb und sich jede Woche die Haare schneiden ließ. Anders als viele andere Kader, die sich ihrer bescheidenen Herkunft rühmten und betonten, wie gleichgültig ihnen so etwas Bourgeoises wie das äußere Erscheinungsbild war, erschien Panin unverschämterweise immer wie aus dem Ei gepellt. Er schrie nicht herum und blieb immer höflich, eine neue Art von Funktionär, der Chruschtschows Rede zweifellos gutgeheißen hatte. Hinter seinem Rücken wurde schlecht über ihn geredet. Unter Stalin, hieß es, hätte sich so ein Waschlappen nicht lange gehalten. Seine Hände waren zu weich, seine Fingernägel zu sauber. Und Leo war sich sicher, dass Panin das als Kompliment nahm.
Rasch verschaffte Panin sich einen Überblick über den Ort des Verbrechens, dann wandte er sich an die KGB-Beamten. »Niemand verlässt das Gebäude. Zählen Sie in allen anderen Wohnungen die Bewohner durch, und vergleichen Sie die Zahlen mit denen des Meldeamtes. Stellen Sie sicher, dass Ihnen keiner durch die Lappen geht. Niemand geht zur Arbeit. Die, die schon weg sind, werden zurückgeholt und verhört. Befragen Sie jeden Einzelnen, und finden Sie heraus, was er gesehen oder gehört hat. Wenn Sie den Verdacht haben, dass jemand lügt, stecken Sie ihn in eine Zelle, und verhören Sie ihn noch mal. Keine Gewalt, keine Drohungen, machen Sie ihnen lediglich klar, dass unsere Geduld nicht unbegrenzt ist. Wenn jemand etwas wissen sollte ...«
Panin unterbrach sich, dann fuhr er fort: »... das sehen wir dann. Außerdem werden wir die Geschichte nach außen anders darstellen. Gleichen Sie die Details untereinander ab, aber kein Wort über Mord. Ist das klar?«
Dann besann er sich, dass es wohl nicht klug war, die Erfindung einer plausiblen Lügengeschichte anderen zu überlassen, und ergänzte: »Diese vier Bürger wurden nicht ermordet. Sie wurden verhaftet und weggeschafft. Die Kinder hat man in ein Waisenhaus gebracht. Fangen Sie an, Gerüchte über ihre subversiven Ansichten zu streuen. Setzen Sie die Maulwürfe ein, die wir hier in der Gegend haben. Es ist von größter Wichtigkeit, dass beim Abtransport niemand die Leichen sieht. Sperren Sie, wenn nötig, die Straße.«
Es war besser, wenn die Leute glaubten, dass eine gesamte Familie auf Nimmerwiedersehen verhaftet worden war, als dass sie erfuhren, dass ein pensionierter MGB-General seine Familie umgebracht hatte.
Panin wandte sich an Leo. »Sie haben Nikolai letzte Nacht getroffen?«
»Er hat mich gegen Mitternacht angerufen. Ich war überrascht. Wir hatten über fünf Jahre nichts mehr voneinander gehört. Er war aufgeregt und betrunken. Er wollte sich mit mir treffen. Ich stimmte zu, obwohl es schon spät
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