Kolyma
Familie.
Raisa und die Mädchen verließen den Bahnhof an der Ecke Ostoschenka und Novokrimski und folgten auf dem Weg zu ihrer jeweiligen Schule einem in den Schnee geschaufelten Fußpfad. Raisa hatte beide Mädchen in derselben Schule anmelden wollen, wo im besten Falle auch noch sie selbst unterrichtet hätte, damit alle drei zusammen sein konnten. Doch die Schulbehörde oder eine höhere Stelle hatte entschieden, dass Raisa am Lyzeum 1535 unterrichten sollte, und da diese Schule nur ältere Schüler aufnahm, musste Elena woanders die Grundschule besuchen. Raisa hatte sich gewehrt, weil doch die meisten Schulen alle Altersklassen aufnahmen und es gar nicht notwendig war, dass man sie auseinanderriss. Doch ihr Antrag war abschlägig beschieden worden. Auch Geschwister gingen schließlich zur Schule, um eine Bindung zum Staat einzugehen, und nicht, um die Familienbande zu stärken. Angesichts einer solchen Philosophie hatte Raisa mit der Stelle am Lyzeum 1535 noch Glück gehabt und ihren Antrag zurückgezogen, um diesen Vorteil nicht zu verspielen. So konnte sie wenigstens ein Auge auf Soja haben. Obwohl Elena jünger war und zunächst vor der neuen Schule in einer großen Stadt auch Angst gehabt hatte, machte Soja Raisa viel größere Sorgen. Sie war in ihren schulischen Leistungen weit zurück, weil ihre Dorfschule nicht den Moskauer Standard gehabt hatte. Ohne Frage war sie intelligent, aber eben ein ungeschliffenes Talent ohne Zielstrebigkeit und Disziplin. Anders als Elena unternahm sie keinerlei Anstrengungen, sich einzufügen, so als sei die selbstgewählte Einsamkeit ihr Prinzip.
Vor der Grundschule, einem umgebauten Stadtpalais des Adels aus vorrevolutionärer Zeit, verwandte Raisa unnötig viel Zeit darauf, Elenas Uniform zu richten. Dann endlich nahm sie sie fest in den Arm und flüsterte: »Alles wird gut. Ich verspreche es.«
In den ersten Monaten hatte Elena jedes Mal geweint, wenn sie von Soja getrennt worden war, und obwohl sie sich allmählich daran gewöhnt hatte, dass sie beide acht Stunden lang nicht zusammen sein konnten, stand sie noch immer am Ende jedes Schultags am Tor und wartete sehnsüchtig darauf, dass sie wieder vereint wurden. Ihre Freude, sobald sie ihre ältere Schwester wiedersah, war nicht geringer geworden, noch immer begrüßte sie sie so überschwänglich, als sei ein ganzes Jahr vergangen.
Nachdem Soja ihre Schwester umarmt hatte, huschte Elena in die Schule. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und winkte ihnen zum Abschied zu. Als sie drinnen war, gingen Soja und Raisa schweigend zum Lyzeum weiter. Raisa widerstand der Versuchung, Soja etwas zu fragen. Sie wollte sie vor dem Unterricht nicht aufregen. Selbst die harmlosesten Erkundigungen konnten bei Soja eine Abwehrhaltung und alle möglichen Arten von Fehlverhalten auslösen, das sich durch den ganzen Tag zog. Wenn Raisa sie nach den Hausaufgaben fragte, war das eine implizite Kritik an ihren schulischen Leistungen. Wenn sie sich nach ihren Klassenkameraden erkundigte, bezog Soja das darauf, dass sie sich mit niemandem anfreunden wollte. Das einzige Thema, über das man gefahrlos sprechen konnte, waren ihre sportlichen Fähigkeiten. Soja war groß und stark. Selbstverständlich hasste sie alle Mannschaftssportarten, weil sie sich nicht unterordnen konnte. Bei Einzelsportarten sah es anders aus. Sie war eine hervorragende Schwimmerin und Läuferin, die Schulschnellste in ihrer Altersgruppe. Aber Soja mochte keine Wettbewerbe. Wenn sie an einem Wettkampf teilnahm, vermasselte sie das Rennen ganz bewusst, hatte allerdings genügend Stolz, um nicht als Letzte anzukommen. Sie strebte den vierten Platz an, und gelegentlich, wenn sie sich verschätzte oder sich von der Stimmung mitreißen ließ, wurde sie auch schon einmal Dritte oder sogar Zweite.
Das Lyzeum 1535 war 1929 in schmucklos kantigem Stil erbaut worden. Es sollte das pädagogische Gleichheitsprinzip verkörpern, eine neue Schule für eine neue Schülergeneration. Zwanzig Meter vor dem Tor blieb Soja plötzlich wie angewurzelt stehen und stierte vor sich hin.
Raisa beugte sich zu ihr hinunter. »Was hast du denn?«
Mit gesenktem Kopf murmelte Soja: »Ich bin traurig. Ich bin immer traurig.«
Raisa biss sich auf die Lippe und unterdrückte ihre Tränen. Sie legte Soja eine Hand auf den Arm. »Sag mir, was ich tun kann.«
»Elena kann nicht zurück ins Waisenhaus. Da darf sie auf keinen Fall wieder hin.«
»Davon kann doch gar keine Rede sein.«
»Ich will,
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