Kolyma
und ich müde war. Nikolai machte einen verwirrten Eindruck. Ich sagte ihm, er solle nach Hause gehen, wir würden reden, wenn er wieder nüchtern sei. Das war das Letzte, was ich von ihm gesehen habe. Als er nach Hause kam, hat er wohl Chruschtschows Rede auf seiner Türschwelle gefunden. Dass sie dort lag, war Teil eines Komplotts gegen ihn, vermutlich angezettelt von denselben Leuten, die heute Morgen die Rede auch vor meiner Wohnungstür deponiert haben.«
»Haben Sie die Rede gelesen?«
»Sie war der Grund, warum ich hergekommen bin. Dass sie mir genau in dem Moment zugestellt wurde, wo Nikolai mit mir Kontakt aufnahm, konnte ja kein Zufall mehr sein.«
Panin drehte sich um und starrte auf Nikolai in dem blutigen Badewasser hinab. »Ich war im Kreml dabei, als Nikita Chruschtschow die Rede gehalten hat. Sie dauerte mehrere Stunden, und keiner hat sich gerührt. Totenstille und völlige Fassungslosigkeit. Nur eine ganz kleine Gruppe von Leuten hat sie verfasst, ausgewählte Mitglieder des Zentralkomitees. Es gab keine Vorwarnung. In den ersten zehn Tagen des 20. Parteitags hatte es nur unbedeutende Redebeiträge gegeben. Die Delegierten applaudierten immer noch, wenn Stalins Name fiel. Am letzten Tag bereiteten sich die ausländischen Delegierten schon auf die Heimreise vor. Wir wurden für eine geschlossene Sitzung einberufen. Chruschtschow schien an der Sache ziemlichen Gefallen zu haben. Er war ganz versessen darauf, die Fehler der Vergangenheit einzuräumen.«
»Gegenüber dem ganzen Land?«
»Seiner Meinung nach durften diese Worte die Wände des Saales nicht verlassen, wenn man nicht den Ruf unserer Nation beschädigen wollte.«
Leo konnte den Zorn in seiner Stimme nicht mehr verbergen. »Und warum sind dann jetzt Millionen Exemplare im Umlauf?«
»Er hat gelogen. Er will ja, dass die Leute das lesen. Sie sollen wissen, dass er der Erste war, der sich entschuldigt hat. Damit hat er schon seinen Platz in der Geschichte eingenommen. Er ist der Erste, der Stalin kritisiert und nicht dafür hingerichtet wird. Der Vermerk, die Rede solle nicht in der Presse abgedruckt werden, war eine Konzession an ihre Gegner. Angesichts der sonstigen Verbreitungspläne ist solch eine Klausel natürlich absurd.«
»Aber Chruschtschow verdankt seinen Aufstieg immerhin Stalin.«
Panin lächelte nur. »Wir sind doch alle mitschuldig, oder etwa nicht? Und das spürt er. Er gesteht, aber nur ein bisschen. In vielerlei Hinsicht ist es die gute alte Denunziationsmasche. Stalin ist schlecht, deshalb bin ich gut. Ich bin im Recht, deshalb sind die anderen im Unrecht.«
»Leute wie Nikolai und ich sind es, die er hier an den Pranger stellt. Er macht uns zu Ungeheuern.«
»Oder er zeigt der Welt, was für Ungeheuer wir tatsächlich sind. Dabei schließe ich mich selbst mit ein, Leo. Es betrifft jeden, der dabei war, der das System am Laufen hielt. Wir reden hier nicht über fünf Namen. Wir reden über Millionen Menschen, die allesamt entweder aktiv involviert oder Mitläufer waren. Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass es vielleicht mehr Schuldige gibt als Unschuldige?«
Leo warf einen Seitenblick auf die KGB-Beamten, die die beiden Töchter untersuchten. »Diejenigen, die Nikolai die Rede zugeschickt haben, müssen gefasst werden.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Welche Spuren haben Sie?«
Leo schlug sein Notizbuch auf und holte das zusammengefaltete Blatt hervor, das er aus Moskwins Druckmaschine gezogen hatte.
Unter Folter wurde Eikhe
Panin studierte das Blatt, während Leo eine Seite aus Nikolais Exemplar der Rede hervorzog. Er deutete auf eine Zeile.
Unter Folter wurde Eikhe gezwungen, ein von den Ermittlungsrichtern vorformuliertes Protokoll seines Geständnisses zu unterzeichnen.
Als Panin die vier Worte wiedererkannte, fragte er: »Woher stammt das erste Blatt?«
»Aus einer Druckerei, die von einem Mann namens Suren Moskwin geleitet wurde, einem ehemaligen MGB-Agenten. Ich bin sicher, dass man auch ihm die Rede zugeschickt hat. Seine Söhne behaupten, dass er einen offiziellen Staatsauftrag über zehntausend Exemplare hatte. Aber ich finde keinerlei Hinweis auf diesen Auftrag. Ich glaube nicht, dass es ihn gegeben hat. Er war gelogen. Man hat Moskwin gesagt, es gehe um einen Staatsauftrag, und ihm dann die Rede ausgehändigt. Er hatte die ganze Nacht durchgearbeitet und den Text gesetzt, bis er zu diesen Worten kam. Da hat er beschlossen, sich umzubringen. Sie haben ihm die Rede gegeben, weil sie
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