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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Riese aus Versehen seine Stiefelspitze in die Kirche gesetzt und dann peinlich berührt den Fuß wieder zurückgezogen, um die übrige Kirche nicht auch noch zu beschädigen. Lasar blickte hoch zu den goldenen Kuppeln. Die Umstehenden folgten seinem Blick, und jeder dachte dasselbe: Würden die Türme zusammenfallen?
    Aus dem Augenwinkel konnte Lasar sehen, wie die Filmcrew fieberhaft die Kameras ans Laufen brachte, den Staub von den Linsen wischte und die Stative stehen ließ, um nur ja die Szene aufzunehmen. Wenn sie den Einsturz verpassten, egal aus welchem Grund, dann ging es ihnen an den Kragen. Ungeachtet der Gefahr lief keiner von ihnen weg, alle blieben auf ihren Posten und warteten auf die kleinste Bewegung, ein Kippen oder Ruckeln ... ein Zittern. Einen Moment lang schien es, als würden selbst die Verletzten in gespannter Erwartung verharren.
    Die fünf Kuppeln stürzten nicht ein, majestätisch überragten sie das Chaos zu ihren Füßen. Denn während die Kirche stehen blieb, waren in der Menge viele verwundet, sie bluteten und schrien. Und als ob sich plötzlich der Himmel verdunkelt hätte, spürte Lasar, wie die Stimmung unter den Leuten kippte. Zweifel machten sich breit. War eine überirdische Macht eingeschritten und hatte dieses Verbrechen unterbunden? Die Schaulustigen fingen an, sich zu zerstreuen, eilten schließlich davon. Keiner wollte mehr zusehen. Mit Mühe unterdrückte Lasar ein Lachen. Die Menge war zerstoben, aber die Kirche hatte überdauert! Er wandte sich in der Hoffnung, den Anblick gemeinsam mit ihnen genießen zu können, zu dem älteren Ehepaar um.
    Der Mann stand direkt hinter Lasar, so nahe, dass sie sich fast berührten. Lasar hatte sein Näherkommen nicht bemerkt. Der Mann lächelte, aber seine Augen waren kalt. Er trug weder eine Uniform noch zeigte er seinen Ausweis. Trotzdem bestand kein Zweifel, dass er zur Staatssicherheit gehörte. Das war ein Geheimpolizist, ein Mitglied des MGB. Lasar konnte es nicht etwa aus dem schließen, was der Mann tat, sondern aus dem, was er nicht tat. Rechts und links lagen Verletzte herum, doch der Mann zeigte kein Interesse an ihnen. Man hatte ihn in der Menge postiert, um die Reaktionen der Leute zu beobachten. Und Lasar hatte versagt. Als er sich hätte freuen sollen, war er traurig gewesen. Und als er hätte traurig sein sollen, hatte er sich gefreut.
    Während der Mann ihn mit einem schmallippigen Lächeln ansprach, ruhten seine toten Augen unverwandt auf Lasar: »Eine kleine Panne, nur ein Malheur, das schnell behoben sein wird. Sie sollten dableiben. Vielleicht klappt es heute doch noch mit der Sprengung. Sie wollen doch bleiben, oder? Sie wollen doch sicher sehen, wie die Kirche einstürzt. Das wird ein ziemliches Schauspiel.«
    »Ja.« Eine vorsichtige Antwort und sogar die Wahrheit. Lasar wollte tatsächlich bleiben. Dass die Kirche einstürzte, wollte er allerdings nicht, aber das würde er bestimmt nicht sagen.
    Der Mann fuhr fort: »Auf diesem Gelände wird eines der größten Hallenbäder der Welt entstehen. Für die Gesundheit unserer Kinder. Die Gesundheit unserer Kinder ist wichtig. Wie heißen Sie?«
    Die einfachste aller Fragen und doch gleichzeitig die furchteinflößendste.
    »Ich heiße Lasar.«
    »Was sind Sie von Beruf?«
    Die Maskerade einer zwanglosen Plauderei war gefallen, jetzt war es ein offenes Verhör. Unterwerfung oder Verfolgung, Pragmatismus oder Prinzipien - Lasar musste sich entscheiden. Anders als viele seiner Mitbrüder, die sofort zu erkennen waren, hatte er immerhin die Wahl. Er musste ja nicht zugeben, dass er ein Priester war. Wladimir Lwow, der ehemalige Oberprokuror der Heiligen Synode, war der Ansicht gewesen, dass die Priester sich nicht mehr durch ihre Tracht absondern mussten, sondern stattdessen »ihre Priestergewänder abstreifen, die Haare schneiden und sich in normale Sterbliche verwandeln« durften. Lasar stimmte ihm zu. Mit seinem kurz geschorenen Bart und seinem unauffälligen Äußeren könnte er diesen Agenten nun anlügen. Er könnte seine Berufung verleugnen und hoffen, dass seine Lüge ihn schützen würde. Er arbeitete in einer Schuhfabrik oder war Tischler - egal was, nur nicht die Wahrheit. Der Agent wartete.

Am selben Tag

    Während ihrer ersten gemeinsamen Wochen hatte Anis ja nicht groß über die Sache nachgedacht. Maxim war erst vierundzwanzig Jahre alt und Absolvent des Seminars der Moskauer Theologischen Hochschule, die, nachdem sie 1918 geschlossen worden war, erst

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