Kolyma
sich, ob er sie nur geheiratet hatte, weil es per se eine reformerische Haltung verriet, wenn ein sogenannter Weißer Priester, der verheiratet war, das Mönchsgelübde ablegte. Die Vorstellung gefiel ihm, passte in sein liberales philosophisches Weltbild. Immer war sie auf den Moment gefasst gewesen, in dem der Staat in ihr Leben eingreifen würde. Doch jetzt, wo dieser Moment gekommen war, fühlte sie sich betrogen. Sie zahlte nun die Zeche für seine Überzeugungen - Überzeugungen, die sie nie hatte beeinflussen oder mitgestalten können.
Lasar legte Maxim eine Hand auf die Schulter. »Es wäre besser, wenn du ins Priesterseminar zurückkehrst und uns denunzierst. Wir werden sowieso verhaftet, und die Denunziation würde ja nur dazu dienen, dass du dich von uns distanzieren kannst. Du bist noch ein junger Mann, Maxim. Keiner wird schlecht von dir denken, wenn du jetzt gehst.«
Aus Lasars Mund war dieser Vorschlag ein zweischneidiges Schwert. Denn seiner selbst hielt Lasar solch eine pragmatische Handlungsweise natürlich für unwürdig, so verhielten sich andere, schwächere Männer und Frauen. Seine moralische Überlegenheit war erdrückend. Er eröffnete Maxim nicht etwa einen Ausweg, sondern fing ihn in einer Falle. Mit bemüht freundlicher Stimme warf Anisja ein: »Du musst gehen, Maxim.«
Er antwortete scharf: »Ich will aber dableiben.«
Dass sie ihn eben ausgelacht hatte, hatte an seiner Ehre gekratzt, deshalb reagierte er jetzt stur und aufgebracht. Mit einem Satz, dessen Doppelbödigkeit ihrem Mann verborgen blieb, antwortete sie: »Bitte Maxim, vergiss alles, was geschehen ist. Damit, dass du bleibst, bewirkst du doch nichts.«
Maxim schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Entscheidung getroffen.«
Anisja registrierte Lasars Lächeln. Ohne Zweifel hatte er Maxim ins Herz geschlossen. Er hatte ihn unter die Fittiche genommen, ohne zu merken, wie sehr der Junge sie vergötterte. Ihm machten nur Maxims Wissenslücken in Bibelstudien und Philosophie Sorgen. Dessen Entscheidung zu bleiben schien ihm zu gefallen, weil er glaubte, dass sie etwas mit ihm selbst zu tun hatte.
Anisja trat näher an Lasar heran.
»Wir können nicht zulassen, dass er sein Leben riskiert.«
»Wir können ihn auch nicht zwingen zu gehen.«
»Lasar, das hier ist nicht sein Kampf!« Ihrer war es auch nicht.
»Er hat ihn zu seinem gemacht. Ich respektiere das, und du musst das auch tun.«
»Es ist doch sinnlos!«
Offenbar sah Lasar in Maxim ein Ebenbild seiner selbst, den Märtyrer. Er hatte sich entschieden, sie zu erniedrigen und ihn zu zerstören. »Schluss jetzt!«, schrie er. »Wir haben keine Zeit mehr. Du willst, dass Maxim nichts passiert. Ich auch. Aber wenn er bleiben will, dann bleibt er.«
Lasar eilte hinter die Ikonostase zu dem steinernen Altar und räumte ihn hastig ab. Jeder, der mit seiner Kirche in Verbindung stand, war jetzt in Gefahr. Für seine Frau oder Maxim konnte er nicht mehr viel tun, sie standen ihm zu nahe. Aber seine Gemeinde, die Menschen, die sich ihm anvertraut und ihre Ängste mit ihm geteilt hatten - deren Namen mussten unbedingt geheim bleiben.
Kaum war der Altar leer, umfasste Lasar ihn an der Querseite. »Schieb!«
Ahnungslos, aber gehorsam drückte Maxim gegen den Altar, dessen Gewicht ihm alle Kraft abverlangte. Der raue steinerne Sockel knirschte über den Steinboden, und als er langsam zur Seite glitt, kam ein Loch zum Vorschein - ein Versteck, das man vor etwa zwanzig Jahren angelegt hatte, als die Attacken gegen die Kirche am heftigsten gewesen waren. Damals hatten sie die Steinplatten entfernt, sodass die nackte Erde zum Vorschein gekommen war. Dann hatten sie vorsichtig gegraben und das Loch mit Holz ausgekleidet, damit die Seiten nicht einbrachen. Ein einen Meter tiefer und zwei Meter breiter Raum war entstanden, in dem sich jetzt eine Stahlkiste befand. Lasar griff danach, Maxim folgte seinem Beispiel und zog am anderen Ende. Gemeinsam hoben sie die Kiste heraus und setzten sie auf dem Fußboden ab, um sie zu öffnen.
Anisja hob den Deckel hoch.
Maxim hockte sich neben sie und konnte die Verblüffung in seiner Stimme nicht verbergen. »Musik?«
Die Kiste war angefüllt mit handgeschriebenen Notenblättern.
Lasar erklärte: »Der Komponist hat hier den Gottesdienst besucht. Er war noch ein junger Mann, nicht viel älter als du, ein Student am Moskauer Konservatorium. Eines Abends kam er zu uns, außer sich vor Angst, dass man ihn verhaften würde. Er fürchtete, dass man
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