Kolyma
er.
Anna antwortete: »Nein.«
»Dann bleiben wir hier draußen.«
Aber Anna wollte mehr wissen. »Können Sie uns erklären, was hier vor sich geht?«
»Es ist zu Racheakten gekommen. Mehr weiß ich nicht.«
Raisa schloss die Tür. Aber Anna war noch nicht besänftigt: »Es geht Leo doch gut, oder?«
Zähneknirschend musste Soja sich Anna anhören und zusehen, wie beim Sprechen die Hautfalten unter ihrem Kinn wabbelten. Dick und fett war sie, weil sie den lieben langen Tag nichts tat, als sich von ihrem Sohn mit teuren und knappen Lebensmitteln versorgen zu lassen. Soja konnte es kaum ertragen, sich ihre Sorgen um Leo anzuhören. Diese Stimme, die beinahe erstickte vor Angst um ihren Mördersohn.
Geht es Leo gut? Es geht ihm doch gut, oder?
Und die Leute, die er verhaftet hatte, die Familien, die er zerstört hatte? Ging es denen gut? Sie hätschelten ihn wie ein Kind. Noch schlimmer als ihre Sorge war ihr elterlicher Stolz. Jede seiner Geschichten begeisterte sie, bei jedem seiner Worte hingen sie ihm an den Lippen. Diese ganzen Liebesbezeugungen waren nicht zum Aushalten: die Küsse, Umarmungen, Scherze. Sowohl Stepan als auch Anna waren willfährige Spießgesellen in Leos Scharade und taten so, als seien sie eine ganz normale Familie. Sie planten Ausflüge und Einkaufsbummel, natürlich nur zu den privilegierten Geschäften und nicht etwa denen mit den langen Schlangen und dem knappen Angebot. Alles war nett. Alles war angenehm. Alles war eine Lüge, die den Mord an ihrem Vater und ihrer Mutter vertuschen sollte. Soja hasste sie dafür, dass sie sie liebten.
»Racheakte?«, fragte Anna.
Sie wiederholte das Wort, als sei die Vorstellung unsinnig und erstaunlich, als könne niemand auch nur den geringsten Grund haben, ihren Sohn nicht zu mögen. Soja konnte sich nicht mehr zurückhalten und mischte sich ein.
»Rache für die vielen Unschuldigen, die verhaftet worden sind! Was habt ihr denn gedacht, was euer Sohn die ganzen Jahre gemacht hat? Habt ihr nicht die Rede gelesen?«
Unisono drehten sich Stepan und Anna entsetzt zu ihr um. Sie kannten die Rede nicht, hatten sie nicht gelesen. Soja merkte, dass sie im Vorteil war, und setzte ein Grinsen auf.
»Was für eine Rede?«, fragte Stepan.
»Die Rede darüber, wie euer Sohn unschuldige Opfer gefoltert hat, wie er sie zu Geständnissen zwang, wie er sie schlug. Darüber, wie die Unschuldigen in die Gulags geschickt wurden, während die Schuldigen in Wohnungen wie der hier lebten.«
Raisa stellte sich schützend vor Soja. »Du musst aufhören. Hör sofort auf!«
»Warum denn? Es stimmt doch. Ich habe die Rede nicht geschrieben. Sie gehörte zu meinem Unterricht. Ich wiederhole nur, was man mir gesagt hat. Ihr habt kein Recht, Chruschtschows Worte zu zensieren. Bestimmt hat er gewollt, dass wir darüber reden, sonst hätte er sie uns ja gar nicht vorlesen lassen. Sie ist kein Geheimnis. Alle wissen Bescheid. Alle wissen, was Leo getan hat.«
»Soja, hör mir zu ...«
Aber Soja war jetzt in Fahrt und nicht mehr zu bremsen: »Ihr glaubt, keiner sollte die Wahrheit über euren wunderbaren Sohn erfahren? Diesen wunderbaren Sohn, der ihnen diese wunderbare Wohnung besorgt hat, der ihnen mit den Einkäufen hilft - euren wunderbaren Mördersohn?«
Stepans Gesicht wurde fahl, seine Stimme zitterte vor Erregung. »Du weißt ja nicht, was du redest!«
»Glaubt ihr mir nicht? Dann fragt doch Raisa. Die Rede ist echt. Alles, was ich gesagt habe, ist die Wahrheit. Und alle werden wissen, dass euer Sohn ein Mörder ist.«
Anna konnte nur noch flüstern. »Was ist das für eine Rede?« Raisa schüttelte den Kopf. »Darüber müssen wir im Moment nicht reden.«
Aber Soja ließ nicht locker. Sie hatte Gefallen an ihrer frisch entdeckten Macht gefunden. »Sie wurde von Chruschtschow geschrieben und beim 20. Parteitag gehalten. Darin heißt es, dass euer Sohn und alle Staatsbeamten wie er Mörder sind. Sie haben gegen das Gesetz gehandelt. Sie sind keine Polizisten, sie sind Kriminelle! Fragt Raisa! Fragt sie, ob es stimmt! Fragt sie doch!«
Stepan und Anna wandten sich an Raisa. »Ja, es gibt da eine Rede. Darin kommen kritische Anmerkungen über Stalin vor.«
»Nicht nur über Stalin, auch über die Leute, die seinen Befehlen gehorcht haben, einschließlich eures Sohnes, dieses Mörders.«
Stepan trat auf Soja zu. »Hör auf, so was zu sagen.«
»Was zu sagen? Mörder? Leo, der Mörder? Was glaubt ihr, für wie viele Morde er noch verantwortlich ist,
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