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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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und zielte auf den vorstehenden Holzstumpf. Während er feuerte und das Holz zersplittern ließ, rückte er weiter vor. Das beständige Trommelfeuer zerfetzte den Balken allmählich, und mit einer letzten Salve brach er entzwei. Jetzt ließ sich die Tür wieder schließen. Timur sprang vor, aber bevor er den Griff erreichte, wurden drei weitere Holzbalken durch die Luke gestoßen. Er bekam die Tür nicht zu. Da ihm die Munition ausgegangen war, zog Timur sich zurück.
    Inzwischen waren vier weitere Wachmänner angekommen und hatten sich am Ende des Gangs postiert. Jetzt waren sie zu siebt - ein jämmerliches Häuflein, das fünfhundert Gegner in Schach halten sollte. Seit ihren anfänglichen Verlusten hatten die Gefangenen keinen zweiten Vorstoß riskiert. Wenn nicht ein Teil von ihnen bereit war, sein Leben zu opfern, würden sie nicht weiterkommen. Ohne Zweifel sannen sie schon über eine andere Angriffstaktik nach.
    Einer der Beamten flüsterte: »Wir schieben einfach unsere Gewehre durch den Türspalt. Die haben doch keine Waffen. Dann lassen sie die Balken los, und wir machen die Tür zu.«
    Drei Wärter nickten und preschten vor.
    Sie hatten kaum ein paar Schritte gemacht, als die Tür aufflog. Panisch eröffneten die Beamten das Feuer, doch es war zwecklos. Die ersten Gefangenen benutzten die verletzten Mannschaftsangehörigen als Schutzschilde. Es war ein grausiger Anblick. Sie setzten die schreienden Männer, deren verbrannte Haut in Fetzen von ihren Gesichtern hing, als menschliche Schutzschilde ein.
    Der Beamte, der dem Ansturm am nächsten war, versuchte sich zurückzuziehen und feuerte dabei seine Waffe kopflos in den Körper seines Kollegen ab. Der Gefangene schleuderte ihm die Leiche entgegen und warf ihn damit zu Boden. Jetzt zielten die Wärter auf die Beine der Gefangenen, aber es waren einfach zu viele. Der Strom der Häftlinge drang weiter vor. In wenigen Minuten würden sie den Gang unter ihrer Kontrolle haben und von dort aus über das gesamte Schiff ausschwärmen. Timur würden sie lynchen. Er war wie gelähmt und schaffte es nicht einmal, seine Pistole abzufeuern. Was konnten sechs Schuss schon gegen fünfhundert Mann ausrichten. Genauso gut hätte er aufs Meer ballern können.
    Dann kam ihm plötzlich eine Idee. Er wandte sich um und rannte zur Außentür, die zum Deck hinausführte. Er warf sie weit auf. Vor ihm tobte das aufgewühlte Meer, eine tosende Wassermasse. Alle Wärter trugen einen Sicherungsgurt. Timur klinkte den Karabiner in den Draht ein, der dafür um den Turm herumlief - so wurde man nicht über Bord gespült.
    Rasch blickte er sich nach der Schießerei um und stellte fest, dass nur noch zwei Beamte übrig waren. Zahlreiche Sträflinge waren tot, aber hinter den Leichen drängte eine schier unerschöpfliche Zahl anderer hervor. Timur brüllte gegen das Meer an, forderte es heraus, stachelte es an. »Na los!«
    Das Schiff tauchte ab und zog Timur in ein tiefes Wellental. Dann hob es sich langsam wieder. Gekrönt von weißer Gischt, rollte ein Berg von Wasser auf ihn zu und ließ den Himmel verschwinden. Er schlug seitwärts gegen das Schiff und durchflutete die Gänge. Timur wurde zurückgerissen und vom Meer überspült. Überall war nur noch Wasser, und seine Gewalt presste ihm die Luft aus der Lunge. Die Kälte betäubte ihn. Hilflos, unfähig, sich zu bewegen, wurde er in den Gang gespült.
    Sein Karabiner rettete ihn und hielt ihn fest. Die Welle war über das Schiff geschlagen, und nun vollführte das Schiff die Gegenbewegung, es neigte sich zur anderen Seite. Das Wasser lief genauso schnell wieder ab, wie es hineingeschossen war. Japsend fiel Timur zu Boden und sah nach, was die Flut angerichtet hatte. Die Phalanx der Gefangenen war zurückgeschleudert worden, manche auf den Boden, die meisten aber die Leiter hinunter. Bevor sie sich wieder erholen konnten, machte er seinen Haken los. Mit klatschnassen Kleidern und randvollen Stiefeln platschte er über die zerschossenen Leiber von Wärtern und Gefangen, den Opfern des Scharmützels. Er schlug die Tür zu und verriegelte sie. Das Unterdeck war verschlossen.
    Timur hatte keine Zeit zu verlieren. Die dem Meer zugewandte Tür stand noch offen. Noch eine solche Wasserwand würde möglicherweise das Innere überfluten und das gesamte Schiff zum Kentern bringen. Timur hangelte sich zurück zur Außentür, da packte ihn eine Hand. Einer der Gefangenen lebte noch und warf Timur um. Dann krabbelte der Gefangene auf ihn und

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