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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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jetzt wurde ihm klar, dass ihm ja noch eine ganz andere Gefahr drohte. Die überlebenden Mannschaftsmitglieder würden ihm vorwerfen, ein Deserteur zu sein. Sie würden ihn genauso verachten wie schon die vorherigen. Wieder würde er zu sieben Jahren Ausgrenzung verurteilt sein. Doch mitten in seiner tiefsten Verzweiflung war ihm die Vergebung praktisch in den Schoß gefallen - als er nämlich das dröhnende Schlagen von Stahl auf Stahl hörte. Von der gesamten Mannschaft war er der Einzige, der mitbekam, dass die Gefangenen die Luke aufbrechen wollten. Sie versuchten, das Schiff vom Deck aus zu erobern. Die Luke war nicht dafür gebaut, einem längeren Angriff standzuhalten. Normalerweise hätte kein Gefangener riskiert, sie anzurühren, aus Angst, erschossen zu werden. In dem Sturm jedoch war die Maschinengewehrlafette unbemannt gewesen. Das war seine Gelegenheit, sich zu beweisen. Diese Aussicht verlieh ihm Flügel, vom Turm aus rannte er über das Deck bis zum Maschinengewehr. Er zielte auf die Luke und schoss. Schwindelig vor Begeisterung jauchzte er auf und feuerte eine zweite und dritte Garbe durch die Luke. Er würde hier draußen bleiben, bis der Sturm vorbei war. Alle im Turm sollten seinen außerordentlichen Mut sehen können. Wenn auch nur ein einziger Gefangener auszubrechen versuchte, wenn er sich der Luke auch nur näherte, würde er ihn töten.

    * * *

    Timur stand auf der Brücke und schäumte vor Wut über Genrichs Blödheit. Er musste verhindern, dass der Mann noch eine Salve in die Luke feuerte. Das Schiff lag jetzt schon zu tief im Wasser, der Kapitän brachte es kaum noch über die Wellen. Wenn noch mehr Wasser eindrang, würden sie sinken. Nichts deutete darauf hin, dass der Sturm bald nachlassen würde. Anders als die anderen wusste Timur, wie viel Wasser schon in das Schiff geflossen war, als er die Außentüren geöffnet hatte. Erst hatte er die Stary Bolschewik vor den Sträflingen gerettet, und jetzt musste er sie auch noch vor einem Wärter retten.
    Er rannte die Treppe hinunter und holte noch einmal tief Luft, dann drückte er die Tür zum Deck auf. Der Wind und der Regen peitschten ihm entgegen, als seien sie durch seine Anwesenheit persönlich beleidigt. Timur schloss die Tür hinter sich und klinkte sich in den Sicherungsdraht ein. Zwischen dem Sockel des Turms und dem Maschinengewehr lagen vielleicht fünfzehn Meter ungeschützten Decks. Wenn ihn auf dieser Strecke eine Welle erwischte, dann würde er entweder in die Decksmitte gespült werden oder hinaus aufs Meer. Seine Sicherungsleine nutzte ihm da nicht viel, sie würde ihn nur wie einen Fischköder durch das Wasser ziehen und schließlich reißen. Er warf einen hastigen Blick auf die Einschusslöcher in der Luke. Da entdeckte er etwas. Ein Lappen wurde hindurchgedrückt, um eins der Löcher zu verschließen. Genrich begriff nichts. Er legte einen neuen Patronengurt ein und wollte weiterfeuern.
    Timur stürzte über das Deck. Genau im selben Moment brandete eine Welle seitwärts an das Schiff und rollte auf ihn zu. Timur warf sich nach vorn, klammerte sich an die Lafette und drückte den Lauf nach oben. Genrich feuerte. Im nächsten Moment schlug die Welle zu. Sekundenlang wurden Timurs Beine hochgerissen. Hätte er sich nicht festgehalten, wäre er aufs Meer hinausgespült worden. Dann floss das Wasser ab, und er bekam wieder Boden unter die Füße. Timur hustete, sein Mund und seine Nase waren voller Wasser. Kaum hatte er sich einigermaßen erholt, packte er Genrich am Genick. Außer sich vor Wut schüttelte er ihn wie eine Stoffpuppe. Dann stieß er ihn weg, riss den Patronengurt aus dem Maschinengewehr und warf ihn ins Meer.
    Nachdem er das Maschinengewehr entladen hatte, taumelte Timur zum Turm zurück und sah im Vorbeigehen noch einmal zur Luke hin. Weitere Stofffetzen wurden in die Löcher gestopft.
    Als er beinahe schon den Turm erreicht hatte, spürte er eine weitere Welle aufschlagen. Er wirbelte herum und sah, wie das Wasser direkt auf ihn zuraste. Es riss ihn von den Füßen, und er krachte auf das Deck. Einen Moment lang herrschte Stille. Alles, was er sehen konnte, waren Millionen von Bläschen. Dann zog sich das Wasser zurück, und das Getöse des Sturms brandete wieder auf. Timur setzte sich auf und blickte um sich. Die Maschinengewehrlafette war verschwunden, herausgerissen wie ein verfaulter Zahn. Die Trümmer waren zum Bug des Schiffes gespült worden. Genrich hing in den verbogenen Eisenteilen fest.
    Timur

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