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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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die aus ihren Kojen gefallenen Gefangenen an der Wand und bereiteten sich darauf vor, dass die Aufwärtsbewegung des Schiffes sich unweigerlich in einen Fall umkehren würde. Aus Angst, nach vorne geschleudert zu werden, ins Ungewisse, grabschten sie nach allem, was noch fest war und woran sie sich krallen konnten. Leo versuchte sich an der Bordwand festzuklammern. Sie war glatt und kalt, nirgends fand er Halt. Das Schiff hielt in seiner Aufwärtsfahrt inne, es ritt auf dem Wellenkamm.
    Gleich würde Leo hilflos nach vorne geschleudert werden, und alle anderen würden auf ihm landen und ihn erdrücken. Ohne etwas sehen zu können, versuchte er sich an die Aufteilung des Laderaums zu erinnern. Die Leiter zur Deckluke hinauf war seine einzige Chance. Würde er sie in der Dunkelheit finden können? Das Schiff kippte nach vorn und schoss in freiem Fall nach unten. Leo warf sich in die Richtung, wo er die Leiter vermutete. Er knallte auf etwas Hartes - Eisensprossen. In dem Moment, als der Bug des Schiffes auf das Wasser klatschte, schaffte er es, sie mit einem Arm zu umklammern.
    Ein zweiter explosionsartiger Aufschlag folgte, diesmal von unvorstellbarer Kraft. Leo war überzeugt, dass das gesamte Schiff auseinandergebrochen war wie eine Nussschale unter einem Hammer. Er machte sich schon gefasst auf die Wasserwand, doch stattdessen hörte er Holz knacken, ein Geräusch wie berstende Baumstämme. Er hörte Schreie. An Leos Arm, den er um die Sprosse gehakt hatte, riss es so heftig, dass er überzeugt war, sich die Schulter ausgekugelt zu haben. Doch immer noch drang kein Wasser ein. Der Rumpf war heil geblieben.
    Leo blickte um sich und bemerkte Rauch. Er konnte ihn nicht nur riechen, er konnte ihn auch sehen. Wo kam das Licht her? Der Lärm der Maschine schien noch zugenommen zu haben. Die Plankenwand, die die Gefangenen von der Dampfmaschine getrennt hatte, war zerborsten, der Maschinenraum lag frei. In seiner Mitte befand sich ein rot glühendes Rad, umgeben von einem Trümmerfeld aus Stockbetten und einem Knäuel von Leichen.
    Leo musste seine an die andauernde Finsternis gewöhnten Augen zusammenkneifen. Der Laderaum war nicht mehr abgesperrt. Die Gefangenen - die gefährlichsten Männer, die der Strafvollzug kannte - hatten jetzt Zugang zu den Mannschaftsquartieren und dem Kapitänsdeck, denn beide ließen sich über den Maschinenraum erreichen. Der ganz von Kohlenstaub bedeckte Maschinist hob die Hände und ergab sich. Ein Gefangener sprang auf ihn zu und schleuderte ihn gegen die glühende Dampfmaschine. Der Maschinist schrie auf, ein Gestank verbrannten Fleisches erfüllte die Luft. Er versuchte sich von der Maschine wegzudrücken, aber der Gefangene presste ihn dagegen und grinste hämisch, während der Maschinist sich mit aufgerissenen Augen an seinem eigenen Speichel verschluckte und bei lebendigem Leibe verkohlte. Begeistert brüllte der Gefangene: »Übernehmt das Schiff!«
    Leo erkannte die Stimme wieder. Das war der Mann, der auf seiner Koje gewesen war, der Bandenchef mit dem Messer - der Mann, der ihn umbringen wollte.

    Am selben Tag

    Im Zickzackkurs kämpfte sich Timur durch die engen Gänge der Stary Bolschewik vor, wurde hin- und hergeschleudert und schlug gegen Wände, während er verzweifelt versuchte, die beiden Türen zu sichern, die zum Maschinenraum hinabführten. Er war gerade auf der Brücke gewesen, als das Schiff von einem Wellenkamm hinabgestürzt war wie von einer Klippe. Dreißig Meter war der Bug gefallen, bevor er in einem Wellental aufgeschlagen war. Über die Navigationsinstrumente hinweg war Timur erst nach vorne und dann auf den Boden geschleudert worden. Der Aufprall ließ die Stahlplatten des Schiffes singen wie eine Stimmgabel. Timur rappelte sich hoch und starrte aus dem Fenster, aber das Einzige, was er sehen konnte, war eine schäumende Wasserfront, die auf ihn zuraste, ein grünes, schwarzes und weißes Ungetüm. Timur war sich sicher, dass das Schiff sinken würde, und warf sich wieder zu Boden, doch da hob sich der Bug schon wieder und ragte in den Himmel empor.
    Der Kapitän hatte im Maschinenraum angerufen, um sich die Schäden durchgeben zu lassen. Keine Antwort, sooft er es auch versuchte. Sie hatten noch Strom, also arbeitete die Maschine. Demnach konnte der Rumpf nicht leckgeschlagen sein, denn bei einem stärkeren Wassereinbruch wäre das Schiff nicht so leicht nach oben gesprungen. Wenn die Außenhülle aber intakt war, dann gab es für den Zusammenbruch der

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