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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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weiterschaufeln oder dem Mann folgen? Wenige Augenblicke später hörte er, wie Stahl auf Stahl wummerte. Leo sprang durch das Loch in der Trennwand zurück ins Dämmerlicht des Laderaums. Er kniff die Augen zusammen und sah, dass der Anführer ganz oben auf der Leiter stand und mit einer Brechstange immer wieder gegen die Deckluke schlug. Bei einem normalen Mann wäre das ein sinnloses Unterfangen gewesen, aber dieser hier hatte eine solche Kraft, dass die Luke sich auszuheulen begann und unter den Schlägen wölbte. Irgendwann würde der Stahl reißen.
    Leo rief: »Wenn du die Luke kaputtschlägst, dringt Wasser ein. Zu kriegst du sie dann nicht mehr. Wenn der Laderaum vollläuft, sinkt das Schiff!«
    Oben auf der Treppe schlug der Sträfling mit unverminderter Kraft weiter auf die Luke ein und rief dabei triumphierend seinen Mitgefangenen zu: »Bevor ich sterbe, will ich frei sein. Ich will als freier Mann sterben.«
    Ohne irgendwelche Ermüdungserscheinungen zerbeulte der Mann geduldig weiter die stählerne Luke. Jeden Schlag setzte er dort an, wo auch schon der letzte gelandet war.
    Unmöglich zu sagen, wie lange es noch dauern würde, bis die Luke kaputt und nicht mehr zu reparieren war. Leo musste sofort handeln. Allein gegen den Mann zu kämpfen war aussichtslos. Er musste die anderen Gefangenen hinter sich bringen. Er drehte sich zu ihnen um: »Unser Leben hängt davon ...«
    Doch seine Stimme wurde von den dröhnenden Schlägen und dem Sturm übertönt. Niemand würde ihm helfen.
    Wieder hechtete Leo, das Schwanken des Schiffes für sich ausnutzend, auf die unterste Leitersprosse zu und hielt sich daran fest. Der Sträfling hatte seine Beine um die stählernen Leiterrohre geklammert und sich dadurch Halt verschafft. Immer weiter schlug er auf die Luke ein. Als er bemerkte, dass Leo zu ihm hochkletterte, richtete er das schartige Stemmeisen auf ihn. Leos Gegner stand weiter oben. Leos einzige Chance war, ihm die Beine wegzureißen und ihn zu Fall zu bringen. Der Sträfling nahm Verteidigungshaltung ein und holte mit der Stange aus.
    Bevor Leo noch seine Position wechseln konnte, schlugen durch die Luke Kugeln in den Rücken des Sträflings. Perplex, den Mund voller Blut, blickte er auf seine Brust hinab. Dann rüttelte ihn der Sturm von der obersten Sprosse nach unten. Leo duckte sich weg, und der Mann schlug platschend auf. Noch mehr Kugeln klatschten durch die Luke und sirrten an Leos Kopf vorbei. Er sprang aus der Schusslinie und landete im Wasser.
    Er warf einen Blick hinüber und sah, dass der wory-Anführer auf dem Bauch lag - er war tot. Von ihm ging keine Gefahr mehr aus. Die Luke allerdings war von Kugeln durchsiebt. Jedes Mal, wenn eine Welle über das Deck brach, regnete eine kräftige Dusche herein. Wenn sie es nicht schafften, die Löcher zuzustopfen, würde der Wasserspiegel weiter ansteigen und das Schiff schließlich zum Kentern bringen. Leo musste unbedingt auf die Leiter und die Löcher verschließen. Immer noch wurde das Schiff von einer Seite zur anderen geschleudert, und immer mehr Wasser ergoss sich durch die Luke. Der Pegel im Laderaum stieg stetig an, er schwappte bereits gegen die sich immer weiter abkühlende Dampfmaschine. Das Schiff hatte jetzt schon damit zu kämpfen, sich aufzurichten, nur langsam stellte es sich wieder in die Vertikale. Es musste etwas geschehen.
    Leo zog dem toten Sträfling die Kleider aus und riss sie in Fetzen. Während Wassergüsse aus der beschädigten Luke ihn wieder und wieder durchnässten, setzte er vorsichtig einen Fuß auf die unterste Sprosse, um nach oben zu klettern. Sein Leben hing jetzt davon ab, dass der unsichtbare Wärter da oben mitdachte.

    Am selben Tag

    Während sich um ihn herum die Wellen brachen, so als würde er auf einem riesigen Wal reiten, klammerte Genrich sich euphorisch an der Maschinengewehrlafette fest. Nur seinem Mut war es zu verdanken, dass der Ausbruchsversuch der Gefangenen gescheitert war. Er hatte das Schiff gerettet. Vom Feigling zum Helden in nur einer Nacht!
    Als er zuvor im Turm mitangehört hatte, wie der Kampf zwischen den Wärtern und den Gefangenen ausbrach, hatte er sich noch in die Mannschaftsquartiere gekauert und versteckt. Er hatte gesehen, wie sein Freund Jakow vorbeirannte, aber nichts unternommen, sondern war in seinem Schlupfwinkel geblieben.
    Erst als er sicher war, dass die Gefangenen verloren hatten, dass man sie zurückgeschlagen und das Schiff gesichert hatte, war er wieder hervorgekrochen. Erst

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