Kolyma
hinunterklettern, als eine Hand nach seinem Gesicht griff.
Bei dem Wind und den Wellen und der Unruhe der Gefangenen hatte er niemanden sich nähern hören. Der Atem des Mannes stank nach Fäulnis. Seine Stimme war schroff.
»Wer bist du?« Der Mann hörte sich gebieterisch an, höchstwahrscheinlich war er der Anführer einer Bande. Leo war sich sicher, dass er nicht allein war. Seine Männer mussten ganz in der Nähe sein, in den anderen Kojen, neben ihm, unter ihm. Kämpfen war aussichtslos. Er würde ja nicht einmal sehen, gegen wen er kämpfte.
»Ich heiße ...«
Der Mann unterbrach ihn. »Dein Name interessiert mich nicht. Ich will wissen, wer du bist. Warum bist du hier bei uns? Du bist keiner von uns wory. Keiner wie ich. Vielleicht bist du ja ein Politischer. Aber dann sehe ich dich Rumpfbeugen machen, ich sehe, wie du dich in Form hältst, und deshalb weiß ich, dass du kein Politischer bist. Die verkriechen sich in einer Ecke und heulen wie kleine Kinder, dass sie ihre Familie nie mehr wiedersehen werden. Das macht mich nervös, wenn ich nicht weiß, was sich hinter einem verbirgt. Ist mir egal, wenn es Mord oder Vergewaltigung oder Diebstahl ist. Ist mir sogar egal, wenn es Kirchengesänge und Gebete und Tugendhaftigkeit sind. Ich will es nur gern wissen. Also, ich frage dich noch mal: Wer bist du?«
Dem Mann schien es vollkommen gleichgültig zu sein, dass das Schiff mittlerweile wie ein Spielzeug hin und her geworfen wurde. Das gesamte Stockbett ruckelte vor und zurück, das Einzige, was es noch stabilisierte, war das Gewicht der Menschen, die darin lagen. Gefangene sprangen auf den Boden und kraxelten übereinander.
Leo versuchte es mit vernünftigen Argumenten. »Wie wäre es, wenn wir darüber reden, sobald sich der Sturm gelegt hat?«
»Warum? Hast du was anderes vor?«
»Ich muss von diesem Stockbett runter!«
»Spürst du das?«
Eine Messerspitze drückte sich in Leos Bauch.
Von einem Moment auf den anderen hob sich das Schiff, so plötzlich und heftig, dass man hätte glauben können, die Hände eines Meeresgottes unter ihnen schöben es aus dem Wasser und schleuderten es gen Himmel. Genauso urplötzlich stoppte die Aufwärtsbewegung, der Schub fiel in sich zusammen, die Wasserhand verwandelte sich in Gischt, und die Stary Bolschewik fiel senkrecht nach unten.
Der Bug klatschte aufs Wasser. Mit der Kraft einer Detonation wummerte der Aufprall durch das Schiff. Wie auf Kommando zerbarsten krachend sämtliche Stockbetten und brachen zusammen. Einen Moment lang hing Leo schwerelos in der Dunkelheit, dann fiel er, ohne zu wissen, was unter ihm lag. Er drehte sich in der Luft, damit er auf dem Bauch landen würde, und streckte die Hände gen Boden. Im nächsten Moment hörte er ein Krachen, das Geräusch brechender Knochen. Unsicher, ob er verletzt war, ob er sich etwas gebrochen hatte, blieb Leo still liegen, benommen und nach Luft schnappend. Er spürte keinen Schmerz. Als er den Boden um sich herum abtastete, stellte er fest, dass er auf einem anderen Gefangenen aufgekommen war, längs auf dem Brustkorb des Mannes. Das Krachen hatten dessen brechende Rippen verursacht. Leo suchte nach dem Puls, fand aber nur einen Holzsplitter, der aus dem Hals des Mannes hervorstach.
Während Leo sich noch aufrappelte, rollte das Schiff erst zur einen und dann zur anderen Seite. Jemand griff nach seinen Fußgelenken. Besorgt, dass es der Bandenchef war, trat er die Hände weg, bis ihm klar wurde, dass da eher jemand verzweifelt Hilfe suchte. Leo blieb keine Zeit, dieses Unrecht wiedergutzumachen, denn in diesem Moment hob sich das Schiff schon wieder, noch steiler als vorher, es schoss geradezu gen Himmel. Die zerschmetterten Stockbetten, die jetzt keinen Halt mehr hatten, rutschten auf ihn zu und schoben sich übereinander. Spitze, tödliche Splitter drückten gegen seine Arme und Beine. Gefangene, die sich auf dem schrägen Boden nicht länger halten konnten, purzelten abwärts und prallten auf Leo, eine Lawine aus Holz und Körpern.
Das Chaos von Menschen und Balken drückte Leo nieder. In blinder Sinnlosigkeit versuchte er, irgendetwas zu finden, was ihm Halt gab, woran er sich klammern konnte. Das Schiff stand jetzt in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel. Etwas Metallisches traf ihn seitlich im Gesicht. Er stürzte und rollte abwärts, bis er an der hinteren Wand aufschlug, dem heißen Bretterverschlag, der die Gefangenen von der tosenden Dampfmaschine trennte. In vier Lagen übereinander hingen
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