Kolyma
haben, war es schon schwierig genug, überhaupt einen Augenblick mit Ihnen allein zu sein.«
Leo schüttelte ungläubig den Kopf. Timur und er hatten schon die haarsträubendsten Situationen überlebt. Er konnte einfach nicht tot sein. Da musste ein Irrtum vorliegen. Ruckartig setzte er sich auf. »Er ist nicht tot. Sie meinen einen anderen.«
»Der Mann, von dem ich rede, ist an Bord der Stary Bolschewik angekommen. Er sollte hier den Posten als stellvertretender Kommandant antreten. Das war natürlich nur Tarnung. Eigentlich wurde er geschickt, um einen Bericht zu schreiben. Er hat es selbst zugegeben. Er behauptete, uns beurteilen zu sollen. Deshalb haben sie ihn umgebracht. Die lassen sich nicht beurteilen. Niemals.«
Offensichtlich hatte Timur diese Geschichte erfunden, um zum Lager zu gelangen. Um ihm, Leo, beizuspringen. Er hätte Timur nie um Hilfe bitten dürfen. Aber er war so damit beschäftigt gewesen, Soja zu retten, dass er an das Risiko, das Timur einging, kaum einen Gedanken verschwendet hatte. Leo war so überzeugt von ihrem Plan und ihren Fähigkeiten gewesen, dass er die Gefahr nicht gesehen hatte. Jetzt hatte er eine glückliche Familie zerstört, nur um eine unglückliche wieder zusammenzubringen, hatte etwas Wunderbares kaputtgemacht, nur um Sojas Liebe zu erringen. Sein Freund Timur, sein einziger Freund, dieser anständige und loyale Mann, den seine Frau geliebt und seine Söhne vergöttert hatten, und den Leo so sehr in sein Herz geschlossen hatte, war tot. Als ihm das endgültig klar wurde, fing Leo an zu weinen.
Als er schließlich wieder aufsah, stellte er fest, dass auch Schores Sinjawski weinte. Ungläubig starrte er den alten Mann mit seinen roten Augen und den tränenüberströmten Lederwangen an. Wie konnte ein Mensch, der unschuldige Menschenleben für eine nutzlose Eisenbahnstrecke geopfert hatte, beim Tod eines einzelnen Menschen weinen, den er noch nicht einmal gekannt hatte und für dessen Tod er auch nicht verantwortlich war? Vielleicht weinte er jetzt um alle Toten, die er früher nie beweint hatte, um jedes Opfer, das im Schnee, in der glühenden Sonne oder im Schlamm sein Leben ausgehaucht hatte, während er zufrieden eine Zigarette rauchte, weil er das Soll erfüllt hatte. Dann fiel ihm wieder Lasars Verachtung dafür ein, und er wischte sich die Augen. Lasar hatte recht. Tränen waren wertlos. Leo schuldete Timur mehr. Wenn Leo nicht überlebte, würden Timurs Frau und seine Söhne noch nicht einmal erfahren, wie er gestorben war. Und Leo würde ihnen nie sagen können, wie leid es ihm tat.
Die Wachen wollten unbedingt verhindern, dass er nach Moskau zurückkam. Sie verteidigten ihr Lehen. Leo war ein Spion und auf beiden Seiten verhasst - bei den Gefangenen ebenso wie bei den Wachen. Und er war allein, wenn man vom Kommandanten absah, dessen Sinne jedoch von seiner Schuld getrübt zu sein schienen. Der Mann war als Verbündeter bestenfalls ein unsicherer Kandidat und hatte das Lager nicht mehr unter Kontrolle. Wie Wölfe strichen die Wachen um die Verwaltungsbaracke und warteten, dass Leo herauskam.
Verzweifelt nach einem Ausweg suchend, blickte Leo sich im Raum um. Auf dem Schreibtisch fiel ihm eine Mikrofonanlage ins Auge, die mit Lautsprechern überall in der Zone verbunden war. »Können Sie damit das ganze Lager erreichen?«
»Ja.«
Leo stand auf, nahm die Blechtasse und goss sie randvoll mit dem warmen, bernsteinfarbenen Alkohol. Er reichte sie dem Kommandanten. »Trinken Sie mit mir.«
»Aber ...«
»Trinken wir im Gedächtnis an meinen Freund.«
Der Kommandant trank in einem Zug aus. Leo füllte die Tasse erneut. »Trinken wir auf alle, die hier gestorben sind.«
Der Kommandant nickte und kippte die Tasse hinunter. Leo goss nach.
»Und auf all die unschuldigen Toten im ganzen Land.« Der Kommandant kippte sich den letzten Schnaps hinter die Binde und wischte sich die Lippen ab.
Leo deutete auf das Mikrofon. »Schalten Sie es ein.«
Am selben Tag
In der Essensbaracke dachte Lasar darüber nach, warum Leo wohl beschlossen hatte, sich der Gnade des Kommandanten zu unterwerfen. Nachdem Schores Sinjawski seit Neuestem sein Mitleid entdeckt hatte, würde er Leo eventuell sogar beschützen. Die anderen Häftlinge schäumten vor Wut, dass man sie nun vielleicht der Gelegenheit berauben würde, Gerechtigkeit walten zu lassen. Sie hatten bereits eine dritte, vierte, fünfte Folter geplant, alle warteten begierig auf den Abend, wo Leo das erdulden würde,
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