Kolyma
verrieten, dass man erst vor Kurzem und offenbar in aller Eile andere Fotos, die sich von diesen hier in Form und Größe unterschieden, abgenommen und durch neue ersetzt hatte.
In abgerissenen Kleidern und mit zerschundenem Körper stand Leo gebeugt da und zitterte wie ein besprisornik, ein zerlumptes Straßenkind.
Sinjawski schickte die Wachen weg. »Ich will allein mit dem Gefangenen sprechen.«
Die Wärter warfen einander einen Blick zu. Einer bemerkte: »Dieser Mann hat uns letzte Nacht angegriffen. Wir sollten lieber bei Ihnen bleiben.«
Sinjawski schüttelte den Kopf. »Unsinn.«
»Genosse, er ist zu gefährlich.«
Angesichts des Rangunterschiedes war der drohende Unterton der Wachleute eigentlich ungehörig. Offensichtlich wurde hier die Autorität des Kommandanten infrage gestellt.
Sinjawski wandte sich an Leo: »Du wirst mich doch nicht angreifen, oder?«
Leo schüttelte den Kopf. »Nein, Genosse.«
»Nein, Genosse! Er ist sogar höflich. Und jetzt raus mit euch. Ich bestehe darauf.«
Zögernd zogen sich die Wachen zurück, machten aber keine Anstalten, ihre Verachtung für seine Milde zu verbergen.
Als sie weg waren, ging Sinjawski zur Tür und sah nach, ob die Wachen nicht draußen warteten. Er hörte auf das Knirschen ihrer Schritte, während sie die Treppe hinabstiegen. Als er sicher war, dass sie allein waren, schloss er die Tür ab und wandte sich zu Leo um.
»Setzen Sie sich bitte.«
Leo setzte sich in einen vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl. Hier drinnen war es warm, es roch nach Holzscheiten. Leo wollte einfach nur schlafen.
Der Kommandant lächelte ihn an. »Ihnen ist bestimmt kalt.«
Ohne die Antwort abzuwarten, ging Sinjawski hinüber zum Ofen, auf dem eine kleine gusseiserne Pfanne stand. Er nahm sie am Stil und goss etwas von einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in eine kleine Blechtasse, die genauso aussah wie die mit dem Pinienextrakt. Er umfasste die Tasse und reichte sie Leo.
»Vorsichtig.«
Leo warf einen prüfenden Blick auf den dampfenden Inhalt. Dann führte er die Tasse an seine Lippen. Das Getränk schmeckte nach flüssigem Honig und Wildblumen. Noch bevor er es herunterschlucken konnte, hatte sein Gaumen den warmen Zucker und den Alkohol aufgesogen wie ein vollkommen ausgetrocknetes Flussbett den ersten Regen. Blut schoss ihm in den Kopf, seine Wangen glühten. Für einen Moment begann sich das Zimmer zu drehen, doch schon bald verwandelte sich das Gefühl wie ein Schlaflied in eine mild berauschende Sanftheit, als habe Leo einen Glücksnektar getrunken.
Sinjawski setzte sich ihm gegenüber hin, schloss eine Schublade auf und holte eine Pappschachtel heraus. Er legte sie zwischen ihnen beiden auf den Schreibtisch. Auf den Deckel war etwas aufgestempelt.
nicht für pressezwecke
Der Kommandant tippte auf den Deckel. »Sie wissen, was da drin ist?«
Leo nickte. »Ja.«
»Sie sind ein Spion, stimmt's?«
Leo verfluchte sich, dass er das Getränk zu sich genommen hatte. Halb verhungerte Verdächtige betrunken zu machen, um ihnen die Zunge zu lösen, war eine übliche Masche. Er brauchte seinen Verstand. Auf das Wohlwollen dieses Mannes zu vertrauen war das Dümmste, was er machen konnte. Als er hereingekommen war, hatte er eigentlich seine wahre Identität preisgeben und dies mit seiner genauen Kenntnis der Karriere des Kommandanten und der Nennung seiner Vorgesetzten belegen wollen. Die Anschuldigung hatte ihn kalt erwischt.
In sein Schweigen hinein redete der Kommandant weiter. »Bitte versuchen Sie nicht zu lügen. Ich kenne die Wahrheit. Sie sind hier, um über den Fortgang der Reformen nach Hause zu berichten. Genau wie Ihr Freund.«
Leos Herz machte einen Satz. »Mein Freund?«
»Ich selbst unterstütze die Veränderungen zwar voll und ganz, viele hier in der Gegend aber nicht.
»Sie wissen etwas über meinen Freund?«
»Die suchen nach Ihnen. Die zwei Beamten, die gestern Abend angekommen sind. Sie sind überzeugt, dass mehr als nur ein Mann gekommen ist, um sie auszuspionieren.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»Aus Ihrem Freund? Sie haben ihn umgebracht.«
Leos Griff um die Blechtasse erschlaffte, fast hätte er sie fallen lassen. Er sackte zusammen, seine Wirbelsäule war wie Gummi. Er ließ den Kopf sinken und starrte zu Boden.
Der Kommandant fuhr fort. »Uns werden sie auch töten, fürchte ich. Ihr Geschrei von der Geheimen Rede hat Ihre wahre Identität verraten. Sie werden nicht zulassen, dass Sie wieder gehen. Wie Sie selbst erlebt
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