Kolyma
Vorlesen oder die Gefangenen vom Zuhören abhalten sollten. Schließlich beschlossen sie, dass es einfacher war, nur gegen einen Mann statt gegen tausend vorzugehen. Sie schlugen mit den Fäusten gegen die Tür und befahlen dem Kommandanten, sofort mit dem Lesen aufzuhören. Die Tür war jedoch aus dicken Baumstämmen gezimmert, um Schutz gegen die arktischen Bedingungen zu bieten. Die kleinen Fenster waren mit Läden verschlossen. Nicht einfach, da hereinzukommen. Verzweifelt feuerte einer der Wachmänner sein Maschinengewehr ab, doch die Garbe riss nur Splitter aus dem Holz und blieb ansonsten wirkungslos. Die Tür ging davon zwar nicht auf, aber trotzdem bekam der Mann, was er gewollt hatte. Die Lesung brach ab.
Lasar empfand die Stille wie einen jähen Verlust, und damit war er nicht allein. Wütend, dass die Rede unterbrochen worden war, begannen die Männer zu seiner Rechten und Linken zu stampfen. Sofort machten andere mit und wenig später alle. Tausend Füße stampften rhythmisch auf dem gefrorenen Boden auf.
»Weiter! Weiter! Weiter!«
Die gleichgeschaltete Energie des Protests wirkte ansteckend, und schon bald stampfte auch Lasar mit.
Leo und der Kommandant horchten auf den Tumult vor der Tür. Aus Angst, dass die Wachen sie erschießen würden, konnten sie die Fensterläden nicht aufmachen und deshalb nicht sehen, was los war. Aber die Vibrationen der stampfenden Füße übertrugen sich durch die Bodendielen, und der Sprechchor war sogar durch die dicken Wände zu hören. »Weiter! Weiter! Weiter!«
Lächelnd legte Sinjawski eine Hand an die Brust, er schien diese Reaktion als Bestätigung für seinen geläuterten Charakter zu empfinden.
Die Stimmung im Lager war brisant. Genauso hatte Leo es gewollt. Er deutete auf die Seiten der Rede, die er in aller Eile zusammengestrichen hatte, um sie zu einer Serie schockierender Geständnisse zu kondensieren. Jetzt reichte er dem Kommandanten die nächste Seite.
Sinjawski schüttelte den Kopf. »Nein.«
Leo war wie vor den Kopf gestoßen. »Warum wollen Sie denn jetzt aufhören?«
»Ich will in meinen eigenen Worten sprechen. Ich bin irgendwie ... inspiriert worden.«
»Was wollen Sie sagen?«
Sinjawski hielt sich das Mikrofon vor den Mund und wandte sich an den Gulag 57. »Mein Name ist Schores Sinjawski. Ihr kennt mich als Kommandanten dieses Gulags, in dem ich seit vielen Jahren Dienst tue. Diejenigen, die erst vor Kurzem angekommen sind, werden mich für einen guten Menschen halten, für anständig, gerecht und großzügig.«
Das bezweifelte Leo. Dennoch versuchte er den Anschein zu erwecken, als sei er von diesen Bekundungen ebenso gefesselt wie überzeugt. Der Kommandant ging seine Rede mit heiligem Ernst an.
»Diejenigen, die schon länger da sind, werden allerdings nicht so freundlich über mich denken. Gerade habt ihr gehört, wie Chruschtschow Fehler des Staates und die Grausamkeiten unter Stalin eingeräumt hat. Ich möchte dem Beispiel unseres Führers folgen und meine eigenen Fehler bekennen.«
Als Leo das Wort »folgen« hörte, fragte er sich, ob Schuldgefühle den Kommandanten antrieben oder eher sein lebenslanger blinder Gehorsam. Ging es hier wirklich um Reue oder nur ums Nachäffen? Wenn der Staat sich wieder auf Angst und Schrecken besann, würde Sinjawski dann ebenso plötzlich zu seiner früheren Brutalität zurückkehren, wie er jetzt seine weiche Seite entdeckt hatte?
»Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Es ist an der Zeit, dass ich euch dafür um Vergebung bitte.«
Leo wurde klar, dass die Wirksamkeit dieses Geständnisses vielleicht sogar noch größer war als das, was Chruschtschow eingeräumt hatte. Diesen Mann kannten die Gefangenen. Und sie kannten auch die Sträflinge, die er umgebracht hatte. Die Sprechchöre und das Gestampfe hörten auf. Die Männer warteten auf das Geständnis.
* * *
Lasar fiel auf, dass selbst die Wachleute nicht weiter versuchten, die Tür einzuschlagen, sondern auf die nächsten Worte des Kommandanten horchten. Nach einer Pause erklang im ganzen Lager Sinjawskis blecherne Stimme.
»Auf meinem ersten Posten in Archangelsk wurde ich beauftragt, Gefangene in einem Waldgebiet zu überwachen. Sie sollten Holz schlagen und die Stämme für den Abtransport fertig machen. Ich war neu. Und ich war nervös. Mein Befehl lautete, jeden Monat eine bestimmte Menge Holz zu liefern, alles andere spielte keine Rolle. Genau wie ihr alle hatte auch ich ein »Plansoll« zu erfüllen. Nach der
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