Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
näher beschriebene Folter. Leo zog sich die Rampe hoch und aus dem Graben, dann folgte er den anderen zurück. Das Einzige, was ihn noch auf den Beinen hielt, war die Aussicht, dass Timur ankommen würde.
    Als er sich dem Lager näherte, war das fahle, von einer tief liegenden Wolkendecke abgeschwächte Tageslicht beinahe vollständig verschwunden. In der einbrechenden Dunkelheit sah er auf dem Hochplateau die Scheinwerfer eines Lastwagens näher kommen. Zwei Fäuste gelblichen Lichts, die aus der Ferne aussahen wie Glühwürmchen. Wenn seine Knie nicht gewesen wären, hätte Leo sich womöglich vor einem gnädigen Gott in den Staub geworfen und vor Erleichterung geweint. Doch die Wachen, die ihn nur noch beschimpften, wenn ihr reformierter, geläuterter Kommandant außer Hörweite war, stießen und knufften ihn vorwärts und trieben ihn zurück in die Zone. Immer wieder warf Leo einen Blick über die Schulter zu dem näher kommenden Laster. Mit zitternden Lippen und außerstande, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, kehrte er in die Baracke zurück. Egal, welche Folter sie sich für ihn überlegt hatten, er würde gerettet werden. Er stellte sich ans Fenster und drückte wie ein Bettlerkind vor einem Süßigkeitenladen Augen und Nase an die Scheibe. So sah er zu, wie der Lastwagen ins Lager einfuhr. Erst stieg ein Wärter aus dem Führerhaus, dann der Fahrer. Wartend krallte Leo seine Fingernägel in den Fensterrahmen. Bestimmt war Timur dabei, vielleicht saß er nur hinten. Minuten verstrichen, aber niemand stieg mehr aus. Leo starrte weiter hinaus, und allmählich siegte die Verzweiflung über die Vernunft, bis er sich schließlich eingestehen musste, dass er den Laster anstieren konnte, solange er wollte. Niemand war an Bord.

    Timur war nicht gekommen.

    Leo konnte nichts essen, sein Hunger hatte einer so großen Enttäuschung Platz gemacht, dass sie sogar seinen Bauch füllte. Lange nachdem die anderen Häftlinge die Essensbaracke verlassen hatten, saß er immer noch am Tisch, bis die Wachen ihm wütend befahlen zu verschwinden. Von denen bestraft zu werden, war immer noch besser als von seinen Mitgefangenen. Lieber die Nacht in einer eiskalten Isolationszelle verbringen, dachte er, als eine erneute Folter über sich ergehen zu lassen. Die Wachleute wurden immerhin von dem bekehrten Kommandanten Schores befehligt. Hatte der nicht etwas von Gerechtigkeit erzählt und von Möglichkeiten? Als die Wärter Leo nun zur Tür stießen, holte er in einem bewussten Akt der Aggression aus und schlug zu. Der Schlag war langsam und schwach, und sie hielten seine Faust fest. Dann knallte ihm einer den Gewehrkolben ins Gesicht.
    An den Armen wurde er in den Schnee gezerrt, an den Beinen schleiften sie ihn durch den Schnee. In die Isolationszelle warf man ihn jedoch nicht, sondern beförderte ihn in die Baracke. In der Mitte des Raumes ließen sie ihn liegen. Er hörte, wie die Wärter gingen. Das Erste, was seine Augen wahrnahmen, waren die Holzbalken. Seine Nase und Lippen waren blutig. Lasar blickte auf ihn herab.
    Sie zogen ihn nackt aus, legten ihm nasse Handtücher um Brust und Arme und verknoteten sie am Rücken, sodass er sich nicht mehr rühren konnte. Leo war verdutzt. Das tat ja gar nicht weh. Obwohl er offiziell nie als Verhörspezialist gearbeitet hatte, waren ihm doch all deren Techniken aus erster Hand vertraut. Manchmal war er gezwungen gewesen zuzusehen. Diese Methode war ihm allerdings neu. Er wurde auf den Rücken gedreht und liegen gelassen. Dann setzten die Häftlinge einfach ihre Abendbeschäftigung fort. Sein Bauch war von den Handtüchern kalt und nass, aber Leo war zu erschöpft, um sich darum zu kümmern. Er nutzte die Gelegenheit und schloss die Augen.
    Einerseits erwachte er vom Lärm der zu Bett gehenden Gefangenen, vor allem aber wegen der Schmerzen in seiner Brust. Langsam fing er an, diese Folter zu begreifen. Je trockener die Handtücher wurden, desto mehr zogen sie sich zusammen, schnürten ihm die Luft ab und pressten ihm die Rippen zusammen. Das Subtile an dieser Bestrafung lag in der Gewissheit, dass die Schmerzen immer schlimmer werden würden. Während die anderen Männer schlafen gingen, nahm Lasar wieder den Platz auf einem Stuhl neben Leo ein.
    Der Rothaarige, der Lasars Stimme war, kam herbei. »Brauchst du mich?«
    Lasar schüttelte den Kopf und schickte ihn zu Bett. Wie ein eingeschnappter Liebhaber funkelte der Mann Leo an, dann zog er sich wie befohlen zurück.
    Als alle

Weitere Kostenlose Bücher