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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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ersten Woche bemerkte ich, dass einer der Gefangenen betrogen hatte, um seine Norm zu erfüllen. Hätte ich ihn nicht erwischt, wären wir unter dem Soll geblieben und der Sabotage bezichtigt worden. Ihr seht also ... es ging ums nackte Überleben. Ich hatte keine Wahl. Also habe ich ein Exempel an ihm statuiert. Er wurde ausgezogen und an einen Baum gebunden. Es war Sommer. Am Abend war sein Körper schon schwarz vor Mücken. Am Morgen war er bewusstlos. Am dritten Tag war er tot. Ich befahl, dass man seine Leiche als Warnung im Wald lassen sollte. Zwanzig Jahre lang habe ich nicht mehr an diesen Mann gedacht. Aber seit einiger Zeit denke ich täglich an ihn. An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihn je gewusst habe. Allerdings erinnere ich mich, dass er damals in meinem Alter war. Ich war einundzwanzig.«
    Lasar registrierte, dass der Kommandant seine Version der Wahrheit mit mildernden Umständen abschwächte.

    Ich hatte keine Wahl.

    Wegen solcher Worte waren Tausende umgekommen, und nicht etwa durch Kugeln, sondern durch eine perverse Logik und wohldurchdachtes Kalkül.
    Als Lasar sich wieder auf die Rede konzentrierte, sprach der Kommandant schon nicht mehr über seine berufliche Station in den Wäldern von Archangelsk. Gerade referierte er über seine Beförderung zu den Salzminen von Solikams.
    »In den Salzminen befahl ich den Männern zur Steigerung der Effizienz, unter Tage zu schlafen. Dadurch, dass ich die Männer nicht mehr nach jeder Schicht hoch- und wieder runterschaffen ließ, sparte ich Tausende wertvoller Arbeitsstunden zum Wohle unseres Staates.«
    Die Gefangenen schüttelten bei der Vorstellung an diese unterirdische Hölle nur noch den Kopf.
    »Mein Auftrag war, nach neuen Möglichkeiten zu suchen, wie man das Wohl unseres Staates mehren könnte. Was hätte ich da tun sollen? Wenn ich nicht auf diese Idee gekommen wäre, hätte mein untergebener Offizier sie vielleicht vorgeschlagen, und dann hätte man mich bestraft. Brauchten diese Männer das Tageslicht dringender als der Staat Salz? Und wenn ja, wer hätte die Autorität besessen, diese Meinung zu vertreten? Wer hätte es gewagt, sich für sie einzusetzen?«
    Einer der Wärter - ein Mann, den Lasar noch nie zuvor gesehen hatte - stapfte auf sie zu und fuchtelte dabei mit seinem Messer. Sie wollten also die Drähte durchschneiden und so den Kommandanten abwürgen.
    Der Wachmann grinste, diese Lösung war nach seinem Geschmack. »Aus dem Weg!«
    Der ihm am nächsten stehende Sträfling stellte sich auf den Draht und versperrte dem Wachmann den Weg. Ein zweiter trat hinzu, dann ein dritter und vierter, sie ließen ihn nicht an die Leitung heran. Der Wachmann verzog das Gesicht zu einem drohenden Grinsen, so als wolle er sagen, dass er sich das merken werde, und marschierte zu einer anderen Stelle, wo der Draht freilag. Sofort reagierten die Gefangenen, schoben sich nach vorne und schlossen die Reihen, um den Draht zu schützen. Immer wieder gruppierte die Schar der Häftlinge sich um, bis sie schließlich eine dichte Phalanx bildeten, die von dem Holzpfahl mit dem Lautsprecher bis zum Sockel der Verwaltungsbaracke reichte. Wenn der Wachmann jetzt noch an die Leitung kommen wollte, musste er schon unter die Baracke kriechen, doch das verbot ihm sein Stolz.
    »Aus dem Weg!«
    Die Häftlinge wichen nicht zurück. Der Wärter wandte sich zu den beiden wachta um, den befestigten Türmen, von denen man das Lager im Blick hatte. Er gab den Schützen Zeichen und deutete auf die Gefangenen, dann machte er sich schnell davon.
    Schüsse peitschten. Sämtliche Gefangenen warfen sich auf die Knie. Lasar blickte sich um, er rechnete damit, Tote und Verletzte zu sehen, doch alle schienen unversehrt zu sein. Offenbar hatte man über ihre Köpfe gezielt. Die Salven waren in die Barackenwand eingeschlagen, Warnschüsse.
    Langsam standen alle wieder auf. Auf der anderen Seite erhob sich Geschrei.
    »Wir brauchen Hilfe!«
    »Holt die feldschery!«
    Lasar konnte nicht sehen, was da vorging. Immer noch wurde nach den Sanitätern geschrien, aber niemand kam. Bald verebbten die Rufe, niemand rief mehr um Hilfe. Dann wanderte von einem Häftling zum nächsten die Nachricht durch die Menge: Ein Gefangener war tot.
    Als der Wachposten merkte, wie die Stimmung umschlug, steckte er das Messer weg und zog die Waffe. Er feuerte auf den Lautsprecher, verfehlte ihn aber mehrere Male, bis er endlich traf. Die Blechhülle des

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