Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
Gefangen schliefen, war der Schmerz schon so heftig, dass Leo um Gnade gefleht hätte, wenn er nicht wieder geknebelt gewesen wäre. Als er sah, wie Leos Gesicht sich langsam verzerrte, so als würden ihm Schrauben in den Kopf gedreht, kniete Lasar sich neben ihn hin wie zum Gebet und beugte sich so nahe an Leos Ohr, dass seine gespitzten Lippen beim Sprechen Leos Ohrläppchen berührten. Seine Stimme war so leise wie herbstliches Blättergeraschel. »Es ist schwer ... einen anderen leiden zu sehen ... egal, was er getan hat. Es verändert einen ... egal, welches Recht man auf Rache hat.«
    Lasar hielt inne, weil er sich von der Anstrengung dieser Worte erst erholen musste. Seine Schmerzen hatten sich nie gebessert. Er lebte mit ihnen wie mit einem Gefährten und wusste, nie würden sie geringer werden, keinen Moment würde er ohne sie sein. »Ich habe die anderen gefragt ... ob es irgendeinen Tschekisten gab ... der ihnen geholfen hat ... Irgendeinen guten Menschen unter ihnen. Alle ... sagten ... Nein.
    Er unterbrach sich erneut und wischte sich den Schweiß von den Brauen, dann legte er die Lippen wieder an Leos Ohr. »Maxim, der Staat hat ... dich ausgesucht, um mich zu verraten ... weil du ein Herz hast ... einen ohne Herz hätte ich sofort erkannt ... Das ist deine Tragödie ... Ich kann dich nicht verschonen ... Es gibt so wenig Gerechtigkeit ... Man muss nehmen, was man kriegt.«
    Aus Schmerz wurde Delirium, so intensiv, dass es beinahe in Euphorie umschlug. Leo nahm die Baracke nicht mehr wahr, die Bretterwände verschwammen und ließen ihn auf einer vereisten, weißen Hochebene zurück. Es war nicht die da draußen, sondern eine weißere, weichere, weder Furcht einflößend, noch kalt. Dann fiel Wasser aus dem Himmel, ein eiskalter Regen direkt über ihm. Leo blinzelte und schüttelte den Kopf. Er lag auf dem Barackenboden. Sie hatten ihn mit Wasser übergossen. Der Knebel war weg, die Handtücher aufgeknotet. Trotzdem konnte Leo nur ganz vorsichtig Luft holen. Seine Lungen hatten sich schon an die Beengung gewöhnt. Er setzte sich auf und atmete stoßweise. Es war Morgen. Er hatte wieder eine Nacht überlebt.
    Die Gefangenen, die auf dem Weg zum Frühstück an ihm vorbeitrotteten, schnaubten ihn verächtlich an. Leos Hecheln wurde langsamer, seine Atmung normalisierte sich allmählich wieder. Er blieb allein in der Baracke zurück und überlegte, ob er sich schon jemals in seinem Leben so verlassen gefühlt hatte. Um aufstehen zu können, musste er sich an einem Bettrahmen abstützen. Ein wütender Wärter schrie ihn an, weil er trödelte. Mit gesenktem Haupt schlurfte Leo los, er konnte die Füße nicht heben, sondern schob nur einen vor den anderen wie ein ungeübter Eisläufer.
    Als er in die Verwaltungszone kam, blieb Leo stehen. Einen zweiten Arbeitstag würde er nicht mehr überstehen, und erst recht keine dritte Nacht. In seinem Kopf schwirrten die Bilder von all den Foltermethoden umher, die er miterlebt hatte. Was würde als Nächstes kommen? Die Illusion, dass Timur kommen würde, reichte nicht, um ihn noch aufrecht zu halten. Ihr Plan war schiefgegangen. Ein Wärter in der Nähe rief: »Los, weiter!«
    Leo musste sich etwas einfallen lassen. Er war auf sich allein gestellt. Er richtete den Blick auf das Büro des Lagerkommandanten und schrie: »Kommandant!«
    Das war ein Regelverstoß. Die Wachen kamen auf ihn zugerannt. Von der Essensbaracke sah Lasar zu. Leo musste so schnell wie möglich die Aufmerksamkeit des Kommandanten auf sich ziehen. »Kommandant! Ich kenne die Rede von Chruschtschow!«
    Bevor er weiterschreien konnte, hatten ihn die Wachen erreicht, und einer schlug ihm auf den Rücken. Ein zweiter Schlag traf ihn in den Bauch. Er krümmte sich zusammen und duckte sich, während sie weiter auf ihn einprügelten. »Aufhören!«
    Die Wachen erstarrten. Leo rappelte sich auf und warf einen hastigen Blick auf die Verwaltungsbaracke. Oben auf der Treppe stand Kommandant Sinjawski. »Bringt ihn zu mir.«

    Am selben Tag

    Die Wärter zerrten Leo die Treppe hoch und ins Büro. Der Kommandant hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, wo ein klobiger, dickbäuchiger Ofen stand. Der mit Holzbalken verschalte Raum war mit Karten der Region und gerahmten Fotos ausstaffiert, die den Kommandanten mit Sträflingen bei der Arbeit zeigten. Der lächelnde Sinjawski mit teilnahmslos blickenden Gefangenen, so als sei er in der Gesellschaft von Freunden. Um die Fotorahmen herum sah man Schatten, die

Weitere Kostenlose Bücher