Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
gelockt, indem er den Mord an diesem Tatort ausgeführt und ihn gedemütigt hatte, indem er sein Gift, seinen Jim Beam verwendet hatte und nicht zuletzt das Fahrradschloss, von dem das ganze Präsidium gehört hatte und mit dem Harry wie ein Hund an das Parkverbotsschild in der Sporveisgata gekettet worden war.
Harry holte tief Luft. Er könnte sein Blatt aufdecken und alles erzählen. Über Gusto, Oleg und die toten Russen und anschließend gemeinsam mit Delta Truls Berntsens Wohnung stürmen. Sollte Berntsen trotzdem entkommen, konnte er ihn anschließend via Interpol zur Fahndung ausschreiben, damit jede Polizeidienststelle in ganz Europa informiert war. Oder …
Harry begann das zerknitterte Camel-Päckchen aus seiner Tasche zu ziehen und schob es dann wieder nach unten. Er war es leid zu rauchen.
… Oder er konnte genau das tun, was dieser Teufel von ihm erwartete.
Erst in der Pause nach dem zweiten Patienten dachte Ståle den Gedanken zu Ende.
Oder die Gedanken, denn eigentlich waren es zwei.
Der erste war, dass niemand das Mädchen vermisst gemeldet hatte. Ein Mädchen zwischen zehn und vierzehn. Ihre Eltern hätten sie vermissen müssen, wenn sie abends nicht nach Hause gekommen wäre, und das hätten sie auch bestimmt gemeldet.
Der zweite war, was das Opfer mit den Polizistenmorden zu tun hatte. Der Mörder hatte bis jetzt nur Ermittler getötet, was darauf hindeuten konnte, dass sich jetzt der typische Drang zur Eskalierung, den man so häufig bei Serientätern beobachtete, meldete. Was konnte man einem Menschen Schlimmeres antun, als ihm das Leben zu nehmen? Die Antwort war ganz einfach: Man tötete seine Nachkommen, seine Kinder. Die Frage lautete also, wer an der Reihe gewesen war. Sicher nicht Harry, er hatte keine Kinder.
In diesem Moment brach der Schweiß aus jeder Pore von Ståle Aunes umfangreichem Körper. Er schnappte sich das Telefon, das in der geöffneten Schublade lag, suchte Auroras Namen heraus und rief sie an.
Die Mailbox sprang an.
Natürlich ging sie nicht ans Telefon, sie war ja in der Schule und durfte dort ihr Telefon aus verständlichen Gründen nicht eingeschaltet haben.
Wie hieß Emilie mit Nachnamen? Er hatte den Namen sicher ein paarmal gehört, aber das war Ingrids Domäne. Er erwog, sie anzurufen, wollte sie aber nicht unnötig beunruhigen und suchte stattdessen die alten Mails von der Schulfreizeit heraus. Tatsächlich fand er eine Liste mit allen Namen der Eltern von Auroras Klasse. Er ging die Namen durch und wurde recht schnell fündig. Torunn Einersen. Emilie Einersen, eigentlich leicht zu merken. Noch besser war, dass in derselben Mail auch alle Telefonnummern standen. Er tippte die Ziffern in sein Telefon, spürte das Zittern seiner Finger, die kaum die Tasten trafen. Er musste zu viel oder zu wenig Kaffee getrunken haben.
»Torunn Einersen.«
»Hallo, hier ist Ståle Aune, der Vater von Aurora. Ich … ähm … wollte nur wissen, ob heute Nacht alles glattgelaufen ist.«
Pause. Zu lange Pause.
»Mit der Übernachtung«, fügte er hinzu. Und um ganz sicherzugehen. »Bei Emilie.«
»Ach so. Aber Aurora hat gar nicht bei uns übernachtet. Ich weiß, dass das eigentlich geplant war, aber …«
»Oh, dann habe ich das sicher falsch in Erinnerung«, sagte Ståle und hörte, wie gequält seine Stimme klang.
»Es ist ja auch nicht immer so leicht, den Überblick zu behalten, wer wo übernachtet«, sagte Torunn Einersen lachend.
Ståle legte auf. Sein Hemd war bereits durchnässt.
Er rief Ingrid an, bekam aber nur den Anrufbeantworter und hinterließ ihr die Nachricht, dass sie ihn anrufen sollte. Dann stand er auf und stürzte durch die Tür. Die wartende Patientin, eine Frau mittleren Alters, die aus für ihn unerfindlichen Gründen zur Therapie ging, blickte auf.
»Wir müssen die heutige Sitzung ausfallen lassen …« Er wollte ihren Namen nennen, doch der fiel ihm erst ein, als er unten am Fuß der Treppe war und auf die Sporveisgata zu seinem Auto rannte.
Harry spürte, dass er den Pappbecher mit Kaffee zu fest umklammerte, als die abgedeckte Bahre an ihm vorbei in den wartenden Leichenwagen getragen wurde. Er musterte die Schar der Schaulustigen, die zusammengeströmt waren.
Katrine hatte angerufen. Es war noch immer niemand vermisst gemeldet worden, und keiner aus der Ermittlungsgruppe des Kalsnes-Falls hatte eine Tochter zwischen acht und sechzehn. Harry bat sie, sich die übrigen Beamten vorzunehmen.
Bjørn kam aus der Bar. Streifte sich
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