Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Heizungsraum vereinbart, und vorher hatte er noch drei Patienten.
Er drehte das Radio an.
Hörte die schrecklichen Nachrichten, und als sein Telefon klingelte, wusste er gleich, dass es einen Zusammenhang gab.
Es war Harry. »Wir müssen unsere Besprechung vertagen, es gibt einen neuen Mord.«
»Das Mädchen, über das sie gerade im Radio gesprochen haben?«
»Ja, wir sind uns jedenfalls ziemlich sicher, dass das ein Mädchen ist.«
»Ihr wisst noch nicht, wer sie ist?«
»Nein, es wird niemand vermisst.«
»Wie alt ist sie?«
»Unmöglich zu sagen. Aber ausgehend von Größe und Körperbau würde ich auf irgendwas zwischen zehn und vierzehn tippen.«
»Und ihr glaubt, dass das mit unserem Fall zu tun hat?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil sie am Tatort eines nicht aufgeklärten Mordes gefunden wurde. Eine Bar namens Come As You Are. Und weil …«, Harry hustete, »weil sie mit einem Fahrradschloss um den Hals an ein Wasserrohr gekettet war.«
»Mein Gott!«
Er hörte Harry noch einmal husten.
»Harry?«
»Ja.«
»Bist du okay?«
»Nein.«
»Stimmt … stimmt irgendetwas nicht?«
»Ja.«
»Abgesehen von dem Fahrradschloss? Ich verstehe ja, dass …«
»Er hat sie mit Schnaps übergossen, bevor er sie angezündet hat. Die leeren Flaschen stehen hier auf dem Tresen. Drei Flaschen. Alles die gleiche Marke. Obwohl er alle möglichen anderen Flaschen hätte wählen können.«
»Es ist …«
»Ja. Jim Beam.«
»… deine Marke.«
Ståle hörte, dass Harry jemandem zurief, nichts anzufassen. Dann war er wieder da. »Willst du den Tatort sehen?«
»Ich habe Patienten. Später vielleicht.«
»Okay, das weißt du selbst am besten. Wir werden auf jeden Fall noch eine Weile hier sein.«
Sie legten auf.
Ståle versuchte, sich wieder auf den Verkehr zu konzentrieren. Sein Atem ging schwer. Seine Nasenflügel weiteten sich und seine Brust hob und senkte sich. Er wusste, dass er an diesem Tag ein noch schlechterer Therapeut als sonst sein würde.
Harry trat aus dem Dunkel der Bar auf die belebte Straße. Fahrräder, Autos und Straßenbahnen fuhren vorbei. Er musste die Augen zukneifen, sah all die sinnlos hin und her hastenden Menschen. Sie ahnten nichts davon, dass nur ein paar Meter hinter ihm ebenso sinnlos der Tod lauerte, in Gestalt der verkohlten Leiche eines jungen Mädchens, das auf einem Stahlhocker mit geschmolzenem Plastiksitz thronte und von dem sie noch nicht einmal wussten, wer es war. Das heißt, Harry hatte eine Ahnung, wollte den Gedanken aber nicht zu Ende denken. Er holte ein paarmal tief Luft und landete dann doch wieder bei genau diesem Gedanken. Dann rief er Katrine an, die er zurück in den Heizungsraum geschickt hatte, damit sie Stand-by an ihrem Maschinenpark sitzen konnte.
»Noch immer keiner vermisst gemeldet?«, fragte er.
»Nein.«
»Okay. Dann überprüf bitte, welche Mordermittler Töchter im Alter zwischen acht und sechzehn haben. Beginne mit denen, die bei dem Kalsnes-Fall dabei waren. Wenn du wen gefunden hast, rufst du sie an und fragst schonend und vorsichtig, ob sie ihre Tochter heute Morgen schon gesehen haben.«
»Wird gemacht.«
Harry legte auf.
Bjørn kam aus der Bar und stellte sich neben ihn. Seine Stimme klang leise und gedämpft, als säßen sie in einer Kirche.
»Harry?«
»Ja?«
»Das ist das Übelste, was ich jemals gesehen habe.«
Harry nickte. Er kannte einige von Bjørns Fällen, konnte ihm aber trotzdem nur zustimmen.
»Wer das hier gemacht hat …«, sagte Bjørn, hob die Hände und atmete schnell, bevor er einen hilflosen Laut von sich gab und die Hände wieder sinken ließ. »Der hätte verdammt noch mal eine Kugel verdient.«
Harry ballte in seiner Tasche die Faust. Er wusste, dass auch das stimmte. Er hätte eine Kugel bekommen sollen. Ein bis drei Kugeln aus der Odessa, die in dem Schrank im Holmenkollveien lag. Nicht jetzt, sondern gestern Nacht. Als ein verdammt feiger Exbulle lieber ins Bett gegangen war, weil er meinte, sich nicht als Henker aufspielen zu dürfen, solange er sich über sein eigenes Motiv nicht im Klaren war. Ob er das für die potentiellen Opfer tat, für Rakel und Oleg, oder einfach nur für sich selbst. Das Mädchen da drinnen würde ihn nicht mehr nach seinem Motiv fragen, für sie und ihre Eltern war es zu spät. Das alles war eine verdammte Scheiße!
Er sah auf die Uhr.
Truls Berntsen wusste, dass Harry jetzt hinter ihm her war, und er würde vorbereitet sein. Er hatte ihn förmlich eingeladen, ihn
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