Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Ståle Aune die Tür des Klassenzimmers aufriss, wirbelten ihm gleich mehrere Gedanken durch den Kopf:
Dass er ein schlechter Vater gewesen war.
Dass er sich nicht sicher war, ob Auroras Klasse ein festes Klassenzimmer hatte.
Und ob es, sollte es so sein, noch immer dieser Raum war.
Es war zwei Jahre her, dass er bei einem Tag der offenen Tür hier gewesen war. Damals hatten alle Klassen Zeichnungen, Tonfiguren, Streichholzmodelle und andere Kunstwerke ausgestellt, die ihn nicht wirklich fasziniert hatten. Ein besserer Vater wäre sicher begeistert gewesen.
Die Stimmen verstummten, und die Gesichter wandten sich ihm zu.
Junge, weiche Gesichter. Unverdorbene, unbesudelte Gesichter, die noch nicht so lange gelebt hatten, wie sie es sollten. Gesichter, die noch geformt werden würden, noch Charakter bekommen sollten und die erst mit den Jahren in der Maske erstarrten, die den darunterliegenden Menschen zeigte. Ihn. Seine Tochter.
Sein Blick fand Gesichter, die er auf Klassenfotos gesehen hatte, auf Geburtstagsbildern, bei viel zu wenigen Handballspielen und bei Abschlussfesten. Einige hatten Namen, die meisten nicht. Sein Blick flackerte weiter, suchte nach dem einen Gesicht, während seine Lippen ihren Namen formten und sein Hals sich zuschnürte: Aurora. Aurora. Aurora.
Bjørn ließ das Telefon in seine Tasche gleiten. Er stand regungslos am Tresen und wandte Harry den Rücken zu. Dann schüttelte er langsam den Kopf und drehte sich um. Sein Gesicht sah aus, als hätte ihn jemand zur Ader gelassen. Blass, blutleer.
»Es ist jemand, den du gut kennst«, sagte Harry.
Bjørn nickte langsam, wie ein Schlafwandler. Schluckte.
»Aber … verdammt, das geht doch nicht.«
»Aurora.«
Die Wand der Gesichter starrte Ståle Aune an. Ihr Name war in einem Schluchzer über seine Lippen gekommen. Wie ein Gebet.
»Aurora«, wiederholte er.
Ganz am Rand seines Blickfelds sah er den Lehrer auf sich zukommen.
»Was geht nicht?«, fragte Harry.
»Seine Tocher«, sagte Bjørn. »Das … das geht doch nicht.«
Ståles Augen schwammen in Tränen. Er spürte eine Hand auf der Schulter. Dann erhob sich vor ihm eine Gestalt, kam zu ihm, und ihre Konturen verschwammen wie in einem Jahrmarktspiegel. Trotzdem fand er, dass sie wie sie aussah. Wie Aurora. Als Psychologe wusste er natürlich, dass das nur eine Flucht des Gehirns war, der Versuch des Menschen, das Unerträgliche zu ertragen, sich was vorzulügen. Das zu sehen, was man sehen wollte. Trotzdem flüsterte er ihren Namen.
»Aurora.«
Und sogar die Stimme klang wie ihre, er hätte es beschwören können:
»Was ist denn los …?«
Er hörte auch das letzte Wort des Satzes, war sich aber nicht sicher, ob ihm da nur sein Hirn einen Streich spielte.
»… Papa?«
»Warum geht das nicht?«
»Weil …«, sagte Bjørn und starrte Harry an, als wäre er nicht da.
»Ja?«
»Weil sie schon tot ist.«
Kapitel 41
A uf dem Friedhof Vestre Gravlund war es morgendlich still. Nur das entfernte Rauschen des Verkehrs auf dem Sørkedalsveien und das Rumpeln der U-Bahn, die die Leute ins Zentrum brachte, waren zu hören.
»Roar Midtstuen, ja«, sagte Harry und marschierte zwischen den Grabstellen entlang. »Wie lang ist er eigentlich schon bei euch?«
»Das weiß niemand«, sagte Bjørn und versuchte, Schritt zu halten. »Seit dem Beginn der Zeit.«
»Und seine Tochter ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen?«
»Ja, im letzten Sommer. Aber das ist doch vollkommen krank, das muss ein Fehler sein. Ihr habt ja nur die ersten Stellen des DNA -Codes, die letzten zehn sind noch unbekannt. Das heißt, die Fehlerwahrscheinlichkeit liegt bei fünfzehn Prozent, vielleicht ist das …« Er wäre fast gegen Harry gelaufen, der abrupt stehen geblieben war.
»Nun«, sagte Harry, hockte sich hin und steckte die Finger in die Erde vor dem Grabstein, auf dem Fia Midtstuens Name stand. »Die Wahrscheinlichkeit ist gerade auf null gesunken.«
Er hob die Hand und frisch aufgegrabene Erde rieselte durch seine Finger.
»Er hat die Leiche ausgegraben, sie ins Come As You Are gebracht und angesteckt.«
»Verflucht …«
Harry hörte das unterdrückte Weinen in der Stimme seines Kollegen. Er sah ihn nicht an. Ließ ihn in Frieden. Wartete. Schloss die Augen und lauschte. Ein Vogel sang ein für lebende Menschen sinnloses Lied. Der Wind schob unbekümmert pfeifend die Wolken an. Eine U-Bahn fuhr in Richtung Westen vorbei. Die Zeit verging, aber hatte sie überhaupt einen Ort, an
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