Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
jemand den Sauerstoff aus dem Raum gesaugt, wie aus einem Vakuumbeutel.
»Was für eine Vergewaltigung?«, stammelte sie.
Es war beinahe dunkel, als Bjørn Holm endlich das Auto fand.
Er war in Klementsrud abgefahren und von dort der Landstraße 155 in östlicher Richtung gefolgt, musste aber das Schild »Fjell« übersehen haben. Erst auf dem Rückweg, nachdem er gemerkt hatte, dass er zu weit gefahren war, hatte er die kleine Straße entdeckt. Sie war noch weniger befahren als die Landstraße und war in der Dunkelheit vollkommen verwaist. Der dichte Wald auf beiden Seiten schien immer näher an die Fahrbahn heranzurücken, als er die Rücklichter des Wagens neben der Straße sah.
Er bremste und warf einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihm war nichts als Dunkelheit und vor ihm leuchteten nur die schwachen roten Rücklichter. Bjørn parkte hinter dem Wagen. Stieg aus. Das melancholische Lied eines Vogels drang aus dem Wald.
Roar Midtstuen hockte neben dem Straßengraben im Licht seiner eigenen Scheinwerfer.
»Du bist wirklich gekommen«, sagte Roar.
Bjørn packte den Gürtel seiner Hose und zog sie hoch. Eine dumme Angewohnheit, die er noch gar nicht so lange hatte. Sein Vater hatte das immer gemacht, wenn er etwas Wichtiges sagen oder tun wollte. Wurde er wirklich wie sein Vater? Dabei hatte er nicht oft etwas Wichtiges zu sagen.
»Ist es hier passiert?«, fragte Bjørn.
Roar nickte. Sah auf den Blumenstrauß, den er auf den Asphalt gelegt hatte.
»Sie war mit ein paar Freunden zum Klettern gewesen. Auf dem Rückweg hat sie hier angehalten, weil sie mal pinkeln musste. Die anderen sind langsam vorgefahren. Man nimmt an, dass es passiert ist, als sie wieder aufs Rad steigen wollte, um den anderen nachzufahren. Vielleicht hatte sie es zu eilig, wollte die anderen einholen und ist irgendwie ins Schlenkern geraten. Sie stand immer so unter Strom, weißt du …« Er musste sich verdammt Mühe geben, um seine Stimme unter Kontrolle zu behalten. »Vielleicht ist sie dabei auf die Fahrbahn gekommen, vielleicht hat sie auch das Gleichgewicht verloren und ist dann …« Roar hob den Blick, als wollte er anzeigen, aus welcher Richtung das Auto gekommen war. »Es gab keine Bremsspuren. Keiner konnte sagen, wie der Wagen aussah, obwohl er eigentlich anschließend an den anderen vorbeigefahren sein muss. Aber die haben natürlich auch nicht darauf geachtet, sondern über das Klettern geredet, die neue Route, die sie ausprobiert hatten. Sie wussten nur, dass ein paar Autos an ihnen vorbeigefahren waren. Erst als sie schon ein ganzes Stück in Richtung Klementsrud gefahren waren, wurde ihnen klar, dass Fia sie längst hätte einholen müssen und dass vielleicht etwas passiert war.«
Bjørn nickte. Räusperte sich. Wollte es hinter sich bringen. Aber Roar ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich durfte mich an den Ermittlungen nicht beteiligen, Bjørn. Weil ich ihr Vater bin, sagten sie. Stattdessen haben sie irgendwelche Frischlinge darangesetzt. Und als sie endlich kapierten, dass das kein Unfall war und der Fahrer sich weder melden noch sonst wie bemerkbar machen würde, war es zu spät, um die ganz großen Geschütze aufzufahren. Die Spur war kalt, das Gedächtnis der Menschen leer.«
»Roar …«
»Schlechte Polizeiarbeit, Bjørn. Ganz einfach. Wir rackern uns unser ganzes Leben für die Truppe ab, geben alles, was in uns steckt, und dann – wenn wir selbst das Liebste verlieren, das wir haben – kriegen wir nichts zurück. Nichts. Das ist so ein verdammter Betrug, Bjørn.« Bjørn starrte auf die unaufhörlich arbeitenden Kiefer seines Kollegen. Sie spannten sich an und lockerten sich wieder und wieder, wieder und wieder. »Da schämt man sich doch wirklich, dass man Polizist ist«, sagte Midtstuen. »Genau wie bei diesem Kalsnes-Fall. Schlechtes Handwerk von Anfang an. Wir lassen den Mörder entkommen, und anschließend wird niemand zur Verantwortung gezogen. Ja, es wird nicht einmal versucht, die Verantwortlichen zu finden , Bjørn.«
»Das Mädchen, das heute Morgen verbrannt im Come As You Are gefunden worden ist.«
»Anarchie. Genau das ist es. Jemand muss die Verantwortung übernehmen. Jemand …«
»Das war Fia.«
In der Stille, die folgte, hörte Bjørn wieder den Vogel singen, dieses Mal an einem anderen Ort. Er musste ein Stück geflogen sein. Dann kam ihm ein Gedanke. Vielleicht war es ein anderer Vogel. Vielleicht waren es zwei. Zwei der gleichen Art, die sich im Wald etwas
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