Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
starrte in die Dunkelheit, die mit jeder Sekunde undurchdringlicher zu werden schien, und erstarrte.
Eine Gestalt hatte sich von den Stämmen gelöst, zwischen denen sie gestanden hatte, und kam auf sie zu. Eine schwarzgekleidete Person. Wie lange hatte die dort schon gestanden?
»Oleg!«, rief Rakel und spürte, wie ihr Herz raste. »Oleg!«
Oben wurde die Musik leiser gedreht. »Ja?«
»Komm runter! Sofort!«
»Kommt er?«
Ja, dachte sie. Er kommt.
Die Gestalt, die sich näherte, war kleiner, als sie zuerst gedacht hatte. Sie ging auf die Haustür zu, und als sie ins Licht der Lampe trat, sah Rakel zu ihrer Überraschung und Erleichterung, dass es eine Frau war. Eine junge Frau. Wie es aussah, in Trainingskleidern. Drei Sekunden später klingelte es an der Tür.
Rakel zögerte. Sah zu Oleg, der auf halbem Weg angehalten hatte und sie von der Treppe aus fragend ansah.
»Es ist nicht Harry«, sagte Rakel und lächelte schnell. »Ich mache auf, geh nur wieder hoch.«
Beim Anblick der jungen Frau, die draußen auf der Treppe stand, beruhigte Rakels Herzfrequenz sich noch weiter. Sie sah ängstlich aus.
»Sie sind Rakel«, sagte sie. »Die Lebensgefährtin von Harry, nicht wahr?«
Rakel dachte, dass diese Einleitung sie beunruhigen sollte. Eine junge, hübsche Frau wandte sich mit leicht zitternder Stimme an sie und sprach über ihren zukünftigen Mann. Vielleicht sollte sie genauer hinschauen, ob unter den engsitzenden Trainingskleidern nicht ein beginnender Bauch zu erkennen war. Aber sie machte sich keine Sorgen, sondern nickte nur.
»Das bin ich.«
»Ich bin Silje Gravseng.«
Das Mädchen sah Rakel an, als erwartete sie eine Reaktion auf den Namen. Die junge Frau hielt die Hände hinter dem Rücken. Ein Psychologe hatte Rakel einmal gesagt, dass Menschen, die ihre Hände versteckten, etwas zu verbergen hatten. Ja, dachte sie. Die Hände.
Rakel lächelte: »Und was kann ich für Sie tun, Silje?«
»Harry ist … war mein Dozent.«
»Ja?«
»Es gibt etwas, das ich Ihnen über ihn erzählen muss. Und über mich.«
Rakel zog die Stirn in Falten. »Ach ja?«
»Darf ich reinkommen?«
Rakel zögerte. Sie hatte keine Lust, fremde Menschen im Haus zu haben. Es sollten nur Oleg und sie da sein, wenn Harry kam. Sie drei. Niemand sonst. Und auf keinen Fall jemand, der etwas über ihn zu erzählen hatte. Und über sich. Und dann geschah es doch. Ihr Blick huschte ganz unfreiwillig zum Bauch des Mädchens.
»Es wird auch nicht lange dauern.«
Was hatte Harry ihr erzählt? Sie dachte über die Situation nach und hörte, dass Oleg die Musik wieder lauter gedreht hatte. Dann öffnete sie die Tür.
Das Mädchen trat ein, hockte sich hin und öffnete die Schnürriemen ihrer Joggingschuhe.
»Das ist nicht nötig«, sagte Rakel. »Fassen wir uns kurz, okay? Ich habe nicht viel Zeit.«
»Na dann«, sagte das Mädchen lächelnd. Erst jetzt im scharfen Licht des Flurs sah Rakel die dünne Schweißschicht, die auf dem Gesicht des Mädchens lag. Sie folgte Rakel in die Küche. »Die Musik«, sagte sie. »Ist Harry zu Hause?«
Rakel spürte nun doch Unruhe aufkommen. Die Frau brachte die Musik automatisch mit Harry in Verbindung. Wusste sie etwa, dass Harry solche Musik hörte? Und schneller, als sie reagieren konnte, drängte sich ein weiterer Gedanke auf: Hatten Harry und sie diese Musik gemeinsam gehört?
Die junge Frau setzte sich an den großen Tisch, legte die Handflächen auf die Tischplatte und strich darüber. Rakel beobachtete ihre Bewegungen. Es sah fast so aus, als wüsste sie genau, wie angenehm lebendig sich das raue, unbehandelte Holz anfühlte. Ihr Blick klebte an Harrys Kaffeetasse. Hatte sie …?
»Was wollen Sie mir erzählen, Silje?«
Die junge Frau lächelte traurig, ohne den Blick von der Tasse zu nehmen.
»Hat er Ihnen wirklich nichts von mir erzählt, Frau Fauke?«
Rakel schloss für einen Moment die Augen. Das Ganze durfte nicht wahr sein. Interessant war aber, dass sie gar nicht glaubte, dass es wahr war. Sie vertraute ihm und öffnete die Augen wieder.
»Sagen Sie, was Sie sagen wollen, als hätte er es nicht getan, Silje.«
»Wie Sie wollen, Frau Fauke.« Die junge Frau nahm ihre Augen von der Tasse und sah sie an. Ihr Blick war beinahe unnatürlich blau, unschuldig und ahnungslos wie der eines Kindes. Und, dachte Rakel, grausam wie der eines Kindes.
»Rakel, ich will Ihnen von der Vergewaltigung erzählen«, sagte Silje.
Rakel bekam plötzlich keine Luft mehr, als hätte
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