Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
zusangen.
»Harrys Vergewaltigung von mir.« Silje sah Rakel so ruhig an, als hätte sie sie gerade über den Wetterbericht informiert.
»Harry hat Sie vergewaltigt?«
Silje lächelte. Ein kurzes Lächeln, nicht mehr als ein Zucken der Muskeln, das ihre Augen nicht erreichte, bevor es auch schon wieder verschwunden war. Wie alles andere. Das Vertrauenswürdige ebenso wie das Gelassene. Und statt des Lächelns füllten ihre Augen sich langsam mit Tränen.
Mein Gott, dachte Rakel, sie lügt nicht. Sie machte den Mund auf, um genug Sauerstoff zu bekommen, und war sich ihrer Sache ganz sicher. Das Mädchen war vielleicht verrückt, aber sie log nicht.
»Ich war so verliebt in ihn, Frau Fauke. Ich dachte, wir wären füreinander bestimmt. Deshalb bin ich in sein Büro gegangen. Vorher hatte ich mich schöngemacht, und er hat das missverstanden.«
Rakel sah zu, während sich die erste Träne von ihren Wimpern löste, über ihre junge, weiche Wange rollte, bis zum Kinn und heruntertropfte. Hinter Rakel auf der Anrichte stand eine Rolle Küchenpapier, aber sie holte sie nicht. Verdammt, nein.
»Harry versteht nichts falsch«, sagte Rakel und war überrascht wegen der Ruhe in ihrer Stimme. »Und er vergewaltigt nicht.« Ruhe und Überzeugung. Sie fragte sich, wie lange das halten würde.
»Sie irren sich«, sagte Silje und lächelte durch die Tränen.
»Tue ich das?« Rakel hatte Lust, ihr mit der Faust in das selbstzufriedene, vergewaltigte Gesicht zu schlagen.
»Ja, Frau Fauke, jetzt verstehen Sie etwas falsch.«
»Sagen Sie, was Sie sagen wollen, und verschwinden Sie hier.«
»Harry …«
Es widerte Rakel derart an, seinen Namen aus diesem Mund zu hören, dass sie sich automatisch nach etwas umsah, womit sie das stoppen konnte. Eine Bratpfanne, ein stumpfes Brotmesser, Klebeband, irgendetwas.
»Er dachte, ich käme, um ihn etwas wegen einer Seminararbeit zu fragen. Aber er hat mich missverstanden. Ich war gekommen, um ihn zu verführen.«
»Wissen Sie was? Ich habe längst verstanden, dass Sie das vorhatten. Und jetzt behaupten Sie, dass Sie bekommen haben, was Sie wollten, es aber trotzdem eine Vergewaltigung war? Also, was ist passiert? Haben Sie Ihr geiles, ach so schüchtern gespieltes Nein, nein gestammelt, bis es irgendwann ein vermeintlich ernstgemeintes Nein wurde, das er vor Ihnen hätte verstehen sollen?«
Rakel kam sich vor wie beim Plädoyer der Verteidigung in einem der vielen Vergewaltigungsprozesse, einem Refrain, den Rakel inbrünstig hasste, als Juristin aber verstand und als notwendiges Übel akzeptierte. Doch in diesem Fall war es nicht nur Rhetorik, es war genau das, was sie fühlte, genau das, was geschehen sein musste .
»Nein«, sagte Silje. »Was ich Ihnen sagen will, ist, dass Harry mich nicht vergewaltigt hat.«
Rakel kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Musste die Tonspur ein paar Sekunden zurückspulen, um sicher zu sein, sie richtig verstanden zu haben. Nicht vergewaltigt.
»Ich habe ihm damit gedroht, ihn wegen Vergewaltigung anzuzeigen, weil …« Die junge Frau wischte sich mit dem Knöchel des Zeigefingers eine Träne aus dem Augenwinkel, der aber gleich wieder feucht wurde. »Weil er der Schulbehörde melden wollte, dass ich mich ihm gegenüber ungebührlich verhalten habe. Womit er natürlich recht hatte. In meiner Panik bin ich ihm zuvorgekommen und habe ihn wegen Vergewaltigung angezeigt. Ich wollte ihm sagen, dass ich nachgedacht habe und bereue, was ich getan habe. Und dass es … ja, eine Straftat ist. Falsche Verdächtigung. Strafgesetzbuch, Paragraph 168. Strafrahmen acht Jahre.«
»Richtig«, sagte Rakel.
»Stimmt«, sagte Silje, während ein Lächeln durch ihre Tränen blitzte. »Ich habe ganz vergessen, dass Sie Juristin sind.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ach«, sagte Silje schniefend. »Ich weiß viel über Harrys Leben. Ich habe ihn studiert, wenn Sie so wollen. Er war mein Idol, und ich war das dumme Mädchen. Ich habe sogar in den Polizistenmorden für ihn ermittelt und geglaubt, ihm helfen zu können. Habe sogar angefangen, einen Vortrag vorzubereiten, um ihm zu erklären, wie alles zusammenhängt. Ich, eine Studentin, die keine Ahnung hat, wollte Harry Hole erklären, wie man den Polizeischlächter fängt.« Silje rang sich neuerlich ein Lächeln ab, während sie den Kopf schüttelte.
Rakel griff nach hinten, nahm die Küchenrolle und reichte sie ihr. »Und Sie sind hierhergekommen, um ihm das zu sagen?«
Silje nickte langsam.
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