Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
»Ich weiß, dass er nicht ans Telefon geht, wenn er meine Nummer auf dem Display sieht. Deshalb habe ich meine Joggingrunde so gelegt, dass ich hier vorbeikomme. Ich wollte sehen, ob er zu Hause ist. Als ich sah, dass das Auto weg ist, wollte ich schon wieder gehen, aber dann habe ich Sie am Küchenfenster gesehen. Und irgendwie kam mir der Gedanke, dass es vielleicht besser ist, wenn ich Ihnen das alles sage. Dass das der sicherste Beweis ist, dass ich es wirklich ehrlich meine und keine Hintergedanken habe.«
»Ich habe Sie da draußen stehen sehen«, sagte Rakel.
»Ja, ich musste erst ziemlich lange nachdenken. Und mir Mut zusprechen.«
Rakel spürte, dass ihre Wut auf das verwirrte, verliebte Mädchen mit dem viel zu offenen Blick die Richtung wechselte und jetzt auf Harry zielte. Er hatte nicht ein Wort gesagt! Warum nicht?
»Es ist gut, dass Sie gekommen sind, Silje. Aber jetzt sollten Sie auch wieder gehen.«
Silje nickte und stand auf. »Bei mir in der Familie gibt es Schizophrenie«, sagte sie.
»Oh«, antwortete Rakel.
»Ja. Es ist durchaus möglich, dass ich nicht ganz normal bin.« Und dann fügte sie mit einem beinahe altklugen Tonfall hinzu: »Aber das ist schon in Ordnung.«
Rakel begleitete sie zur Tür.
»Sie werden mich nicht mehr sehen«, sagte sie, als sie draußen auf der Treppe stand.
»Viel Glück, Silje.«
Rakel blieb mit verschränkten Armen auf der Treppe stehen und sah ihr nach, als sie über den Vorplatz lief. Hatte Harry ihr nichts gesagt, weil er fürchtete, dass sie ihm nicht glaubte? Dass immer ein Schatten des Zweifels bleiben würde?
Damit kam der nächste Gedanke. Würde es das sein, ein Schatten des Zweifels? Wie gut kannten sie einander? Wie gut konnte ein Mensch einen anderen kennen?
Die schwarzgekleidete Gestalt mit dem blonden, tanzenden Pferdeschwanz verschwand aus ihrem Blickfeld, während sie noch lange die Joggingschuhe auf dem Kies hörte.
»Er hat sie ausgegraben«, sagte Bjørn Holm.
Roar Midtstuen saß mit gesenktem Kopf da. Kratzte sich im Nacken, wo seine kurzen Haare wie eine Bürste hochstanden. Die Dunkelheit senkte sich über sie, die Nacht schlich sich lautlos heran, während sie im Lichtkegel der Scheinwerfer von Midtstuens Auto saßen. Als Midtstuen endlich etwas sagte, musste Bjørn sich vorbeugen, um ihn zu verstehen.
»Mein eingeborenes Kind.« Dann folgte ein kurzes Nicken. »Er hat wohl getan, was er tun musste.«
Bjørn glaubte erst, sich verhört zu haben. Dann dachte er, dass Midtstuen einen Fehler gemacht haben musste, dass er ein Wort verwechselt oder an die falsche Stelle des Satzes gestellt hatte. Aber dennoch war der Satz so rein und klar, dass er ganz natürlich klang. Natürlich und wahr. Dass der Polizeischlächter nur tat, was er tun musste.
»Ich hole die restlichen Blumen«, sagte Midtstuen und stand auf.
»Ja, klar«, erwiderte Bjørn und starrte auf den kleinen Strauß, der vor ihm lag, während Midtstuen aus dem Licht trat und um das Auto herumging. Er hörte, dass der Kofferraum geöffnet wurde, während er an das Wort dachte, das Midtstuen gewählt hatte. Mein eingeborenes Kind. Mein einziges Kind. Es erinnerte ihn an seine Konfirmation und daran, dass Aune den Mörder mit Gott verglichen hatte. Ein Gott der Rache. Aber Gott hatte auch Opfer gebracht. Er hatte seinen eigenen Sohn geopfert. Ihn ans Kreuz schlagen lassen und ausgestellt, so dass jeder ihn sehen konnte. Ihn sehen und sich seine Leiden vorstellen konnte. Die des Sohnes und des Vaters.
Bjørn sah Fia Midtstuen auf dem Hocker vor sich. Der eingeborene Sohn. Zwei. Oder drei? Es waren drei gewesen. Wie hatte der Pastor das noch einmal genannt?
Bjørn hörte ein klirrendes Geräusch aus dem Kofferraum und dachte, dass die Blumen offenbar unter etwas Metallenem lagen.
Dreieinigkeit. Das war es. Der dritte war der Heilige Geist. Das Gespenst. Der Dämon. Der, den sie nie sahen und der nur hier und da in der Bibel auftauchte, um dann immer gleich wieder zu verschwinden. Sie war am Hals an eine Wasserleitung gefesselt worden, damit sie nicht zusammensackte. Die Leiche war zur Schau gestellt worden. Wie der Gekreuzigte.
Bjørn Holm hörte Schritte hinter sich.
Der geopfert wurde, gekreuzigt von seinem eigenen Vater, weil die Geschichte es so wollte. Wie lauteten die Worte?
»Er hat wohl getan, was er tun musste.«
Harry starrte auf Megan Fox. Sie zitterte leicht, hielt seinem Blick aber stand. Auch ihr Lächeln schwand nicht. Wie eine Einladung. Er nahm die
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