Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Waffe nachgeblickt, als sie über das Geländer verschwand und an der Mündung des Drammenselva im Wasser des zehn bis zwölf Meter tiefen Fjords verschwand. Dort würde sie niemals gefunden werden. Brackwasser. Trüb, weder salzig noch süß. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Der Tod in einer Randzone. Er hatte gelesen, dass es Tierarten gab, die auf ein Leben in dieser Brühe spezialisiert waren. Sie waren derart pervertiert, dass sie das Wasser, das normale Lebensformen brauchten, nicht vertrugen.
Truls drückte auf die Fernbedienung der Autoalarmanlage, bevor er den Parkplatz erreichte. Das Heulen verstummte sofort. Es war niemand zu sehen. Weder hier unten noch auf den Balkonen um ihn herum, trotzdem hatte Truls das Gefühl, einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus den bevölkerten Wohnungen ringsherum zu hören: Endlich, und pass beim nächsten Mal besser auf dein Auto auf. Idiot, warum hast du die Alarmzeit auch nicht begrenzt.
Das Seitenfenster war tatsächlich eingeschlagen. Truls steckte den Kopf hinein, konnte aber nicht erkennen, ob sich jemand am Radio zu schaffen gemacht hatte. Was hatte Aronsen gesagt? Und wer war überhaupt dieser Aronsen? Aus Block C. Da kamen alle in Frage, alle oder keiner. Wer hatte …?
Truls fand die Antwort den Bruchteil einer Sekunde, bevor er den kalten Stahl in seinem Nacken spürte. Er wusste instinktiv, dass es Stahl war. Der Lauf einer Pistole. Es gab keinen Aronsen und auch keine Jugendgang auf Raubzug.
Die Stimme war dicht neben seinem Ohr.
»Dreh dich nicht um, Berntsen. Und wenn ich jetzt meine Hand in deine Hose stecke, bewegst du dich keinen Millimeter. Hui, da guck sich einer diese gut trainierte Bauchmuskulatur an.«
Truls wusste, dass er in Gefahr war, er wusste nur noch nicht, wie genau diese Gefahr aussah. Aronsens Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor.
»Und? Bricht dir jetzt der Schweiß aus, Berntsen? Oder gefällt dir das? Dabei will ich eigentlich nur die hier haben. Jericho? Was wolltest du denn damit? Jemandem ins Gesicht schießen? Wie du es bei René gemacht hast?«
Und damit wusste Truls Berntsen, dass er in Lebensgefahr war.
Kapitel 43
R akel stand am Küchenfenster, knetete das Telefon in ihrer Hand und starrte wieder in die Dämmerung. Sie konnte sich irren, glaubte aber, zwischen den Nadelbäumen auf der anderen Seite der Einfahrt eine Bewegung gesehen zu haben.
Andererseits würde sie im Dunkeln immer irgendwo Bewegungen sehen.
Diesen Schaden hatte sie davongetragen. Denk nicht darüber nach. Du darfst Angst haben, aber nicht darüber nachdenken. Lass dein Gehirn sein dummes Spiel treiben, aber ignorier es, wie man ein nerviges Kind ignoriert.
Sie stand in der hell erleuchteten Küche, gut sichtbar für jeden, der dort draußen war. Sie blieb trotzdem stehen. Musste trainieren, durfte sich von der Furcht nicht aufzwingen lassen, was sie tun oder lassen sollte. Es war verdammt noch mal ihr Haus, ihr Zuhause.
Aus der oberen Etage war Musik zu hören. Er spielte eine von Harrys alten CD s. Eine von denen, die auch sie mochte. Talking Heads, Little Creatures .
Sie blickte noch einmal auf das Telefon und versuchte, es mit Telepathie zum Klingeln zu bringen. Schon zweimal hatte sie Harry angerufen, aber noch immer keine Antwort erhalten. Dabei hatten sie ihn überraschen wollen. Die Nachricht aus der Klinik war tags zuvor gekommen. Die Ärzte waren früher als erwartet zu dem Schluss gelangt, dass er so weit war. Oleg war Feuer und Flamme gewesen. Es war seine Idee gewesen, nichts zu sagen, sondern einfach nach Hause zu fahren und Harry zu überraschen, wenn er von der Arbeit kam. Sie wollten hinter der Ecke hervorspringen und Oh, là, là.
Das waren Olegs Worte gewesen: Oh, là, là.
Rakel hatte ihre Zweifel gehabt, Harry mochte keine Überraschungen. Aber Oleg hatte darauf bestanden. Da müsste Harry durch, meinte er. Und schließlich hatte sie eingewilligt.
Jetzt bereute sie die Entscheidung.
Sie trat vom Fenster weg und legte das Telefon auf den Küchentisch neben seine Kaffeetasse. Für gewöhnlich räumte er immer peinlich auf, wenn er das Haus verließ, diese Polizistenmorde schienen ihn wirklich zu stressen. In den letzten Tagen hatte er bei ihren nächtlichen Telefonaten auch nicht mehr über Beate Lønn gesprochen, ein ziemlich sicheres Zeichen, dass er an sie dachte.
Rakel drehte sich abrupt um. Dieses Mal war es keine Einbildung gewesen. Sie hatte etwas gehört. Schritte auf dem Kies. Sie ging zurück zum Fenster,
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