Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
die Chancen, dass er jemals wieder aus dem Koma aufwacht, sind gering. Egal …« Anton verlagerte das Gewicht wieder auf das andere Bein, ihr musternder Blick war auf die Dauer unangenehm. »Bis dahin müssen wir auf ihn aufpassen.«
Anton Mittet verließ sie mit einem Gefühl der Niederlage. Er ging die Treppe hinunter zur Rezeption und trat nach draußen in den Herbstabend. Als er sich auf dem Parkplatz in sein Auto setzte, klingelte sein Handy.
Es war die Einsatzzentrale.
»Mord im Maridalen«, sagte Null eins. »Ich weiß, dass Sie eigentlich für heute fertig sind, aber die brauchen da oben dringend Hilfe bei der Absicherung des Tatorts. Und da Sie ohnehin schon Uniform tragen …«
»Wie lange?«
»Sie werden in spätestens drei Stunden abgelöst, allerspätestens.«
Anton war überrascht. Eigentlich unternahmen sie zurzeit alle nur erdenklichen Anstrengungen, um Überstunden zu vermeiden. Die Kombination aus korrekter Regelauslegung und begrenztem Budget ließ normalerweise keine praktische Lösung zu. Also musste dieser Mord etwas Besonderes sein, vermutete er. Hoffentlich war das Opfer kein Kind.
»Okay«, sagte Anton Mittet.
»Ich schicke Ihnen die GPS -Koordinaten.«
Das war eine Neuerung. Durch das GPS mit der Detailkarte vom Großraum Oslo und den aktiven Sender konnte die Einsatzzentrale jeden sofort orten. Vermutlich hatten sie deshalb ihn angerufen. Er war am nächsten.
»Gut«, sagte Anton. »Drei Stunden.«
Laura war schon im Bett, aber sie mochte es, wenn er nach der Arbeit gleich nach Hause kam, weshalb er ihr eine SMS schickte, bevor er sich ins Auto setzte und in Richtung Maridalsvannet fuhr.
Anton brauchte kein GPS . An der Einfahrt des Ullevålseterveien standen bereits vier Polizeiwagen und dahinter wies ihm das orangeweiße Absperrband den Weg.
Anton nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und ging zu dem Beamten, der an der Absperrung stand. Im Wald huschten Lichter hin und her, und ein Teil des Weges war von den festmontierten Scheinwerfern der Kriminaltechniker hell erleuchtet, bei denen er immer an Filmaufnahmen denken musste. Eine gar nicht so abwegige Assoziation, denn seit neuestem machten sie nicht nur Fotos, sondern filmten das Opfer und den Tatort auch mit einer HD -Videokamera, um auch nachträglich noch den Tatort absuchen und verschiedene Bereiche, die ihnen zuvor nicht als relevant erschienen waren, einzoomen zu können.
»Was ist passiert?«, fragte er den Kollegen, der mit vor der Brust verschränkten Armen zitternd vor der Absperrung stand.
»Mord.« Die Stimme des Mannes war belegt, und seine rotgeränderten Augen unterstrichen die Blässe seines Gesichts.
»Das habe ich gehört. Wer leitet den Einsatz?«
»Die Kriminaltechnik. Lønn.«
Anton hörte Stimmen aus dem Wald. Sie waren zahlreich. »Sonst ist noch keiner da? Weder Kripo noch Leute vom Kriminalamt?«
»Die kommen schon noch. Nachher wimmelt es hier bestimmt von Leuten. Der Tote ist gerade erst entdeckt worden. Sind Sie meine Ablösung?«
Noch mehr Leute? Und trotzdem soll ich Überstunden machen? Anton musterte den Kollegen genauer. Er trug einen dicken Mantel, zitterte aber trotzdem immer mehr. Dabei war es gar nicht kalt.
»Waren Sie als Erster hier?«
Der Beamte nickte stumm und sah zu Boden. Stampfte mit den Füßen auf.
Verdammt, dachte Anton. Also doch ein Kind. Er schluckte.
»Ah, Anton, hat Null eins Sie geschickt?«
Anton blickte auf. Er hatte die beiden nicht gehört, die aus dem dichten Wald gekommen waren.
»Ja, ich soll irgendjemanden ablösen«, sagte Anton zu der Frau. Er wusste, wer sie war. Es gab wohl niemanden, der sie nicht kannte. Beate Lønn, die Leiterin der Kriminaltechnik, hatte den Ruf einer Art Rain Man -Frau, was sie ihrer seltenen Fähigkeit zu verdanken hatte, Gesichter wiederzuerkennen. Die Polizei nutzte das, um Kriminelle auf körnigen, schlechten Überwachungsvideos zu identifizieren. Es hieß, sie könne selbst maskierte Täter erkennen, wenn sie früher schon mal verhaftet worden waren, und die Datenbank in ihrem kleinen blonden Kopf umfasse mehrere Tausend Bilder. Dieser Mord war definitiv etwas Besonderes, normalerweise schickten sie nicht mitten in der Nacht ihre Chefs los. Neben dem blassen Gesicht der schmächtigen Frau wirkte das ihres Kollegen beinahe feuerrot. Seine sommersprossigen Wangen zierte ein knallroter Backenbart. Die Augen standen ein wenig vor, als herrschte in seinem Kopf ein etwas zu hoher Druck, was seinem Gesicht einen
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