Koma
Menschen. Nelson war noch besessener, und Goodman hatte ihn nur mit Mühe vom Selbstversuch abhalten können. Er wußte, daß man in der Wissenschaft langsam und methodisch vorgehen mußte und nicht den Blick für die objektiven Gegebenheiten verlieren durfte. Voreilige Versuche, Behauptungen oder Enthüllungen konnten sich für alle Beteiligten als katastrophal erweisen. Goodman blieb also einstweilen nichts anderes übrig, als seinen normalen Arbeitsrhythmus beizubehalten, so lange, bis er seine Entdeckung preisgeben konnte. So kam es, daß er an jenem Montagmorgen seine Zeit mit ganz gewöhnlicher Klinik-Anästhesie zubringen mußte.
»Verdammt!« Dr. Goodman richtete sich auf. »Mary, ich habe keinen Luftröhrenschlauch dabei. Könnten Sie ins Anästhesie-Zimmer laufen und einen holen? Nummer acht, bitte.«
»Wird gemacht.« Mary Abruzzi verschwand aus dem OP. Dr. Goodman sortierte die Gasanschlüsse und verband sie mit den Lachgas- und Sauerstoffventilen an der Wand.
Sean Berman war Goodmans vierter und letzter Fall an diesem 23. Februar 1976. An jenem Vormittag hatte er bereits drei Patienten sanft zum Einschlafen gebracht. Dabei stellte ihn nur eine aufgeblähte, zweihundertneunzig Pfund schwere Frau vor potentielle Probleme. Goodman befürchtete, die Berge von Fettgewebe würden solche Mengen an Anästhesie-Wirkstoffen absorbieren, daß die fristgerechte Beendigung der Narkose erschwert werden könnte. Aber es ging viel besser als erwartet. Obwohl die Operation länger dauerte, war die Patientin praktisch schon wach, als die letzte Naht genäht wurde.
Bei den anderen beiden Fällen hatte es sich um reine Routine gehandelt: einmal Krampfadern, einmal Hämorrhoiden. Goodmans letzter Fall, ein Patient namens Berman, bedeutete Meniskusentfernung im rechten Knie, und der Anästhesist hoffte, spätestens um Viertel nach eins in seinem Labor zu sein. Jeden Montagmorgen dankte Goodman seinem Glücksstern, daß er die Weitsicht gehabt hatte, sich die Forschungsmöglichkeiten offenzuhalten. Klinische Anästhesie empfand er als langweilig, sie bot kaum Schwierigkeiten, beinhaltete zuviel Routine und war endlos eintönig.
Seinem Nachbarn pflegte er die schrecklichen Montage in den grauesten Farben zu schildern. Um nicht zu verzweifeln, gebe es nur ein Mittel, nämlich zu variieren, verschiedene Narkosetechniken anzuwenden, um dem Kopf etwas zu tun zu geben und nicht einfach nur neben dem schlafenden Patienten zu sitzen und in den Tag zu träumen. Gab es keine Kontraindikationen, so bevorzugte Dr. Goodman eine ausbalancierte Mehrfach-Anästhesie. In der Praxis hieß das, er brauchte dem Patienten nicht eine gigantische Dosis irgendeines Mittels zu verpassen, sondern konnte entsprechend den Notwendigkeiten mehrere Wirkstoffe aufeinander abstimmen.
Mary Abruzzi kam mit dem Luftröhrenschlauch.
»Mary, Sie sind ein Engel«, sagte Dr. Goodman und überprüfte noch einmal seine Vorbereitungen. »Ich glaube, wir sind jetzt soweit. Wollen wir den Patienten reinholen?«
»Nichts lieber als das. Ich krieg’ meinen Lunch erst, wenn der Fall vorbei ist.« Mary Abruzzi verließ zum zweitenmal den Raum.
Da bei Berman keinerlei Kontraindikation zu beobachten war, entschied sich Dr. Goodman für Neurolept-Anästhesie. Er wußte, Spallek hätte nichts dagegen einzuwenden; die wenigsten Orthopäden kümmerten sich um dergleichen. Wenn man sie fragte, welche Narkose sie haben wollten, hieß die Antwort meistens: »Sorgen Sie nur dafür, daß er stillhält, alles andere ist mir egal.«
Die von Dr. Goodman bevorzugte Neurolept-Anästhesie war in Wirklichkeit eine Kombination. Der Patient bekam ein starkes Beruhigungsmittel und ein ebenso wirksames Analgetikum, einen Schmerztöter. Beide Wirkstoffe hatten den Nebeneffekt, daß der Patient leicht wieder aufwachte. Dr. Goodman bevorzugte von den gängigen Mitteln Droperidol und Fentanyl. Danach wurde der Patient mit Pentothal eingeschläfert und mittels Lachgas im Schlaf gehalten. Curare wurde benutzt, um die Skelettmuskeln zu lähmen für die Beatmung und den chirurgischen Eingriff. Während der Operation gab man nach Bedarf weitere Dosen der beruhigenden und schmerzstillenden Wirkstoffe zur Aufrechterhaltung des nötigen Narkosegrades. Während der ganzen Zeit mußte der Patient unter genauester Beobachtung gehalten werden. Dr. Goodman war das gerade recht: So verging die Zeit schneller.
Die OP-Tür wurde geöffnet. Einer der Pfleger half, und Mary Abruzzi schob den Wagen mit
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