Koma
amazonenhaft entblößt.
»Schon gut, meinetwegen, noch einen Tag. Aber du kannst sicher sein, wenn Stark heute an der Visite teilnimmt, weiß der sofort, daß du Phantom spielst. Und ich kann dich mit keiner Ausrede mehr decken. Darüber mußt du dir klar sein.«
»Warten wir doch einfach mal ab, allmächtiger Chirurg. Dir wird schon was einfallen, da bin ich sicher.«
»Susan, im Ernst, ich muß dann sagen, ich hätte dich angewiesen, an der Visite teilzunehmen.«
»Meinetwegen, ganz wie du willst. Aber ich werde den Tag noch mit meinem Projekt zubringen, und zwar den ganzen Tag. Ich hab’ schließlich schon einiges investiert.«
Susan kuschelte sich in das warme Bett. Als im Bad die Dusche aufgedreht wurde, hörte sie es kaum noch. Sie würde aufstehen, sobald Bellows fertig war.
Als Susan zum zweitenmal aufwachte, war es bereits hell. Vereinzelte Windstöße trieben Regenschauer gegen die Fensterscheiben; es klang, als würde jemand mit Reiskörnern werfen. Mit einer für das Bostoner Wetter typischen Unberechenbarkeit hatte der Wind über Nacht von Nordwest nach Ost gedreht. Dank dem Golfstrom war die Temperatur beträchtlich über Null gestiegen, und man mußte sich eher auf einen feuchten grauen als auf einen glatten weißen Tag gefaßt machen, zur Freude der Berufspendler und den Skiläufern zum Zorn.
Als Susans Blick auf den Wecker fiel, wollte sie ihren Augen kaum trauen: Es war beinahe neun Uhr. Bellows hatte sich fertiggemacht und die Wohnung verlassen, ohne sie noch einmal zu wecken. Dabei hatte Susan einen leichten Schlaf. Um sicherzugehen, sah sie im Bad und im Wohnzimmer nach. Sie war allein.
Sie suchte und fand ein sauberes Handtuch und duschte ausgiebig. Dabei kam ihr mit wohltuender innerer Wärme die Erinnerung an den Abschluß des vergangenen Abends. Bellows hatte sich als ein erfreulich guter Liebhaber erwiesen, war viel gefühlsbetonter und großzügiger, als Susan erwartet hatte. Sie war wirklich erfreut, obwohl sie ernste Zweifel hegte, daß die Affäre von Dauer sein würde. Bellows’ Besessenheit von der Chirurgie schien bei ihm alles andere weitgehend zu verdrängen oder auf die Bedeutung eines Hobbys zu beschränken.
Im Kühlschrank fand Susan Käse und eine Apfelsine. Während sie Toast machte, blätterte sie das Branchenregister des Telefonbuchs durch. Nach dem Frühstück sah sie noch einmal nach, ob sie auch nichts vergessen hatte, dann verließ sie Bellows’ Wohnung und zog die Tür fest ins Schloß. Sie wußte, ihr stand ein harter Tag bevor.
Als sie auf die Straße trat, hatte der Regen nachgelassen. Der Himmel hatte sich zwar nicht aufgeklärt, aber sie konnte ihren Fußmarsch jetzt unter angenehmeren Bedingungen antreten. Susan bog nach links ein und stieg den Mount Vernon hinauf. Nachdem sie über den Kamm hinweg war und den Park an der Nordecke durchquert hatte, kam sie in die Einkaufszone der City.
Wenig später rieb sich der Verkäufer im Zentrum für Berufskleidung die Augen. Von allen jungen Mädchen, die jemals bei ihm eine Schwesterntracht erstanden hatten, erwies sich Susan als die bei weitem angenehmste Kundin. Die besonderen Kennzeichen der verschiedenen Uniformen schienen sie überhaupt nicht zu interessieren. Sie verlangte einfach nach Größe zehn. Jawohl, jedes Stück dieser Größe wäre ihr recht.
Der Verkäufer kramte ein besonders exquisites Exemplar hervor. »Der Schnitt ist äußerst elegant, probieren Sie’s doch mal an.«
Susan hielt sich den Kittel vor und sah kurz in den Spiegel.
»Dort hinten sind die Umkleidekabinen«, sagte der Mann.
»Schon gut, ich nehm’ ihn.«
Der Verkäufer war sprachlos, aber hocherfreut. Seinetwegen konnte jeder Handel so glatt über die Bühne gehen.
Auf dem Weg zum Verwaltungszentrum wurde Susan schon auf der Washington Street wieder vom Regen überrascht. Zuerst war es nicht viel mehr als ein Tröpfeln, doch als sie kurz vor der modernen, ultrageometrischen City Hall war, brach es aus allen Himmelsporen. Der Wind hatte die Innenstadt in ein tiefgraues Wolkenmeer gehüllt. Susan stürzte in das Gebäude hinein.
Von dem Mädchen am Informationsschalter erfuhr sie, daß die Baubehörde im achten Stock lag. Soweit war alles gutgegangen, doch mit dem Augenblick, da sie dort ankam, setzten die Schwierigkeiten ein. Susan wartete fünfundzwanzig Minuten am Haupttresen, nur um dann zu erfahren, dies sei der falsche Ort. Das gleiche geschah ihr noch zweimal, bevor sie jemand in den hinteren Teil des
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