Koma
seiner Küchenarbeit aufgerichtet: Er sah einen Hoffnungsschimmer. Erleichtert drehte er die Steaks noch einmal um und schloß das Fenster.
»Warum gehen Sie nicht einfach hin? Ich meine, wenn man sich das überlegt, kann der Betrieb dort doch auch nicht soviel anders sein als in einem normalen Krankenhaus. Da geht es bestimmt genauso chaotisch zu wie im Memorial. Tun Sie doch so, als gehörten Sie da hin, und wahrscheinlich wird niemand Sie auch nur fragen, was Sie wollen. Sie könnten sogar Schwesterntracht anziehen. Wenn jemand als Schwester oder Arzt verkleidet ins Memorial kommt, kann er hingehen, wo immer er will.«
Susan sah auf. Mark stand in der Küchentür. »Der Gedanke ist gar nicht schlecht … Nein, nicht übel. Nur gibt es einen Haken.«
»Welchen?«
»Daß ich gar nicht wüßte, wohin ich mich wenden sollte, selbst wenn ich reinkäme. Das ist doch ein Riesenkomplex. Und wenn man jede Orientierung verloren hat, kann man schwer den Eindruck erwecken, als gehöre man dazu.«
»Das Problem läßt sich lösen. Sie brauchen doch nur zum Bauamt in der City Hall zu gehen und sich eine Kopie der Gebäudepläne zu besorgen. Dort liegen die Grundrisse aller öffentlichen Gebäude und können eingesehen werden. Dann hätten Sie sozusagen eine Landkarte.«
»Mark, Sie sind ein Genie!«
»Ein Praktiker, würde ich sagen.« Wie zum Beweis brachte er das fertige Essen ins Wohnzimmer. Er servierte die Steaks und große Portionen Salat. Außerdem gab es Spargel mit Sauce Hollandaise und eine zweite Flasche roten Bordeaux.
Das Essen erschien beiden perfekt. Der Wein tat ein übriges, und im Verlauf des folgenden ungezwungenen Gesprächs lernten sie einander kennen: Susan aus Maryland, Mark aus Kalifornien. Auf intellektuellem Gebiet hatten sie nicht allzuviel gemeinsam; Marks Bildungsweg war ziemlich streng auf die Denkweisen von Descartes und Newton ausgerichtet gewesen, während Susan mehr zu Voltaire und Chaucer tendierte. Aber es gab andere Berührungspunkte. Beide waren fanatische Skiläufer und liebten das Meer, meinten überhaupt, sich unter freiem Himmel erst richtig entfalten zu können. Und beide mochten Hemingway.
Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten, ließen sie sich am anderen Ende des Wohnzimmers auf weichen Kissen vor dem Kamin nieder. Bellows legte Eichenklötze nach; die Glut prasselte auf. Grand Marnier und Eiskrem sorgten für eine behagliche Gesprächspause, und beide genossen die friedliche Stille.
»Susan«, brach Mark schließlich das Schweigen, »jetzt, wo ich Sie immer besser kennenlerne, habe ich mehr und mehr den Wunsch, Ihnen diese Koma-Sache auszureden. Vor Ihnen liegt ein ungeheurer Berg von Wissen und Erfahrung, den Sie mühsam hinaufklettern müssen. Und, glauben Sie mir, kein Krankenhaus ist besser zum Lernen geeignet als das Memorial. Die Koma-Fälle werden uns bestimmt noch einige Zeit beschäftigen, und Sie können sich immer noch in aller Ruhe damit befassen, wenn Sie erst wirklich etwas von klinischer Medizin verstehen. Ich sage ja gar nicht, daß Sie nicht auch schon heute etwas dazu beitragen könnten. Aber die Chancen, auf etwas Neues zu stoßen, sind äußerst gering.«
Susan trank ihren Grand Marnier in kleinen Schlucken. Die aromatische Flüssigkeit glitt sanft durch ihre Kehle, und sie spürte die wohlige Wärme bis in die Beine. Sie atmete tief durch; der Kopf schien ihr angenehm leicht.
»Als Frau Medizin zu studieren muß schon schwierig genug sein«, fuhr Bellows fort, »auch wenn man nicht noch zusätzlich Hürden aufbaut.«
Susan hob den Kopf und sah ihn an. Er starrte ins Feuer. »Was genau, mein lieber Mark, wollen Sie mit dieser Feststellung ausdrücken?« fragte sie mit leichter Schärfe in der Stimme. Bellows hatte einen Nerv getroffen.
»Das, was ich sagte.« Bellows sah nicht auf; die tanzenden Flammen hielten seinen Blick gefangen. »Ich glaube einfach, daß eine Studentin es in der Medizin sehr schwer hat. Ich hab’ darüber eigentlich zum erstenmal nachgedacht, als Sie mich vor die Notwendigkeit stellten, eine Erklärung für Harris’ Benehmen zu finden. Aber je länger ich jetzt überlege, um so mehr glaube ich, da ins Schwarze getroffen zu haben, nicht zuletzt, weil … Na ja, um die Wahrheit zu sagen, ich kann auch nicht gerade behaupten, ich hätte in Ihnen nichts als die Medizinstudentin gesehen. Als ich Ihnen das erste Mal begegnete, spürte ich bei mir sofort die Mann-Frau-Reaktion. Mit anderen Worten: Ich empfand Sie auf Anhieb als
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