Koma
wieder sehen, ist schon viel zu lange her.«
Oren legte auf und lächelte McLeary zufrieden an. Dann wandte er sich Susan zu.
»Miss Wheeler, wie Sie selbst gehört haben, will Ihr Dekan ein Wörtchen mit Ihnen reden, heute nachmittag um sechzehn Uhr dreißig. Und von diesem Augenblick an haben Sie dienstlich im Memorial nichts mehr zu suchen. Auf Wiedersehen.«
Susan sah von Oren zu McLeary und zurück. McLeary zeigte keine Regung, Oren trug das bescheidene Lächeln eines Mannes, der soeben eine hitzige Auseinandersetzung zu seinen Gunsten entschieden hat. Das Schweigen wurde erdrückend. Susan wußte, daß das Spiel aus war. Wortlos stand sie auf, nahm das Paket mit der Schwesternuniform und ging.
Mittwoch
25. Februar
11 Uhr 15
Susan floh aus dem Memorial. In ihrer Gemütsverfassung schien ihr die Krankenhausatmosphäre unerträglich. Blindlings bahnte sie sich einen Weg durch die Menschenmenge in der Halle und stürmte hinaus in den kalten, regnerischen Februartag. Ein Ziel hatte sie nicht. Tief in Gedanken versunken, ging sie, wohin die Füße sie trugen. Sie bog in die New Chardon Street, später in die Cambridge Street ein.
»Arschlöcher!« zischte sie vor sich hin und trat gegen eine leere Konservendose, die in hohem Bogen durch die Luft flog. Der Regen klebte ihr das Haar an die Stirn; kleine Tropfen fielen von ihrer Nasenspitze. Sie wanderte die Joy Street entlang und näherte sich Beacon Hill, nahm aber ihre Umgebung kaum wahr: weder die Hunde noch den Müll, noch die anderen Randerscheinungen städtischen Lebens.
Nie zuvor hatte Susan sich so isoliert gefühlt. In das Bewußtsein tiefer Einsamkeit mischte sich die Angst vor dem Versagen. Sie sehnte sich nach einer Aussprache, nach jemandem, der sie anhören würde und dem sie gleichzeitig Vertrauen und Respekt entgegenbringen konnte. Stark? Bellows? Chapman? Sie erwog Vor- und Nachteile. Bellows’ Objektivität war ihr suspekt, Stark und Chapman würden sich im Zweifelsfall an ihre Loyalität gegenüber ihren Institutionen gebunden fühlen.
Susans Spekulationen machten auch vor dem Schlimmsten nicht halt: unehrenhafter Ausschluß aus der Medizinischen Fakultät. Das wäre in ihren Augen nicht nur ein persönliches Versagen, sondern sie würde damit allen Frauen in der Medizin eine vernichtende Niederlage beibringen. Susan wünschte, sie könnte einer kompetenten Geschlechtsgenossin ihr Herz ausschütten, irgendeiner Ärztin vielleicht, aber sie kannte keine. Auch in der Fakultät gab es nur wenig Frauen, und die eigneten sich kaum als Ratgeberinnen.
Mitten im selbstquälerischen Grübeln rutschte sie mit dem rechten Fuß aus. Sie mußte an einer Hausmauer Halt suchen und stellte fest, daß sie in einen großen, frischen Hundehaufen getreten war.
»Verdammt, dieser Beacon Hill!« Susan verfluchte Boston und die ganze Scheiße – im wörtlichen wie übertragenen Sinn –, die eine Stadtverwaltung zu tolerieren gewillt war. Trotzdem konnte sie sich dem symbolischen Effekt dieser Episode nicht ganz verschließen. Vielleicht war sie nicht nur am Beacon Hill in einen Haufen Scheiße getreten, und das Beste, was sie tun konnte, war, die Sache zu ignorieren. Es gab Haufen, die mußte man links liegen lassen. Ihre Pflicht, auch sich selbst gegenüber, war es, Ärztin zu werden, das hatte Vorrang vor allem anderen. Die Bermans und Greenlys waren nicht ihre Sache.
Der Regen wurde stärker. Wasserbäche rannen ihr übers Gesicht. Sie war jetzt etwas vorsichtiger, paßte von nun an auf, wohin sie trat, und das Fortkommen wurde leichter. Das galt jedoch keineswegs für ihren Seelenfrieden in bezug auf Berman und Nancy Greenly. Die Symbolik hinkte. Sie dachte an die Parallelen zwischen Nancy und ihr: dasselbe Alter, ähnliche Schwierigkeiten bei der Menstruation. Auch Susan hatte mehrfach starke Blutungen gehabt, und sie erinnerte sich genau daran, wie hilflos und verängstigt sie jedesmal gewesen war. Durchaus möglich, daß sie selbst sich einer Ausschabung unterziehen mußte, am Ende sogar im Memorial.
Doch aus dem Memorial war sie nun erst einmal herausgeflogen, und deshalb lag die Entscheidung, ob sie den Koma-Fällen weiter nachgehen sollte, gar nicht bei ihr. Es war aus und vorbei. Wenn sie an ihre Erwartungen zu Beginn des Unternehmens dachte! »Eine neue Krankheit!« Susan lachte bitter im Gedanken an ihre eigene Überheblichkeit.
Sie schlenderte die Pickney Street hinunter, überquerte die Charles Street und ging in Richtung Fluß weiter.
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