Komm her, Kleiner
keine Lust, irgendwem zu erklären, wer ich bin, also nehme ich das Gespräch nicht entgegen, aber wenn ich jetzt mitschreibe, brauche ich das Band später nicht abzuhören.
„Ja, hallo, hier spricht Ines!“, meldet sich nach dem Pfeifton eine Frauenstimme. „Hallo, ist jemand da?“ Ich seufze. Komm zur Sache, Schätzchen. „Hallo, sind Sie da? Verdammt, wo habe ich denn den Zettel … Michael, sind Sie da?“
Ich zucke zusammen und fühle mich ertappt. Wer ist das? Zögernd nehme ich den Hörer ab. „Ja, hallo?“
„Sind Sie Michael?“
„Ja. Aber woher wissen Sie …“
„Gott sei Dank, ich versuche schon seit einigen Tagen, Sie zu erreichen! Annette hat gesagt, ich erreiche Sie am besten spätnachmittags, aber Fehlanzeige.“
„Sie haben mit Annette gesprochen?“
„Richtig. Passen Sie auf, Michael: Ich brauche dringend eine Halskette zurück, die ich Annette vor ein paar Monaten geliehen habe. Sie sagt, sie liegt in ihrem Schlafzimmer. Auf der Kommode in einer Schale. Sehen Sie mal nach, bitte?“ Es klingt nicht wie eine Bitte, sondern wie ein ziemlich direkter Befehl. Wahrscheinlich sollte dies Beweis genug dafür sein, dass die Anruferin wirklich eine Freundin von Annette ist.
Auf der Kommode steht eine Silberschale, in der einige teuer aussehende Schmuckstücke liegen. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass Annette ziemliches Vertrauen zu mir haben muss, wenn sie mir so einfach ihren Schlüssel gibt.
„Wie sieht das gute Stück denn aus?“, frage ich.
„Es ist eine Perlenkette mit einer goldenen Schließe. Und als Anhänger ein Kreuz, auch mit Perlen. Haben Sie’s?“
„Ja, hab ich. Wollen Sie es sich abholen?“
„Nein. Annette hat gesagt, Sie bringen es mir vorbei“, sagt die Frau wie selbstverständlich. Als ich nicht reagiere, setzt sie mit wesentlich freundlicherer Stimme hinterher: „Sie haben doch Zeit, oder?“
„Eigentlich nicht. Sie hätten schon vorher aufs Band sprechen sollen, dann hätte ich früher Bescheid gewusst.“
„Sie haben ja recht … Michael, ich brauche die Kette heute Abend. Dringend! Ich wohne zwei Straßen weiter, in der Lenbach 17. Seien Sie ein Schatz, ja?“ Und dann, nach einer winzigen Pause: „Bitte!“ Ich kann das Lächeln in ihrer Stimme erkennen. Klingt angenehm. Na los, was soll’s. Die Fenster werden mir nicht weglaufen. Außerdem gibt es in Lenbach eine kleine Videothek. Ich kann mir auf dem Rückweg Gefährliche Liebschaften ausleihen. „Okay, ich bin in paar Minuten bei Ihnen. Bei wem soll ich klingeln?“
„Moucheron. Wie Mücke, wenn Sie Französisch sprechen sollten.“
„ Mais oui. Also, bis gleich.“
Keine zehn Minuten später stehe ich in der Lenbachstraße vor Haus Nummer 17. Die Eingangstür ist offen. Ich gehe die Treppen nach oben. Es ist kühl hier, und ich merke, wie meine Nippel hart werden und gegen den Stoff des T-Shirts scheuern. Aus irgendeinem Grund ist mir das unangenehm.
Als ich schon fast im zweiten Stock bin, wird mir klar, dass ich besser auf das Klingelschild hätte sehen sollen. Wo wohnt diese Frau? Glücklicherweise kommt mir in dem Moment eine alte Dame mit einem Einkaufskorb entgegen. „Entschuldigen Sie bitte – ich möchte zu Moucheron?“, frage ich freundlich.
Auf der Stirn der Alten zeigt sich plötzlich eine tiefe Zornesfalte. „Vierter Stock“, grummelt sie mich an und geht weiter. Unfreundliche Ziege.
In geschwungenen Buchstaben steht Les Moucheron auf einem blitzblanken Messingschild neben der Tür. Darunter befindet sich der Klingelknopf, den ich drücke. Wenig später wird die Tür geöffnet.
„Michael?“ Eine ausgesprochen attraktive Frau streckt mir lachend die Hand entgegen. „Wie wunderbar! Vielen Dank, dass Sie mich nicht im Stich lassen. Kommen Sie doch herein!“
Ines Moucheron hat halblanges, schwarzes Haar, das schimmert und ihre helle Haut und die beeindruckenden grüngrauen Augen betont. Sie ist groß, nur einen Kopf kleiner als ich, und trägt eine weite Leinenhose und einen engen, flauschigen Pullover. Frauen, die ihre vollen Brüste so selbstverständlich betonen, machen mich immer etwas nervös. Als ich an ihr vorbeigehe, steigt mir ein frischer, würziger Duft in die Nase. Ich erinnere mich vage daran, dass Annette dieses Parfüm auch benutzt.
Ich folge Ines in ein großes, helles Wohnzimmer. Eine Balkontür steht offen und gibt den Blick auf einen kleinen, üppig bepflanzten Balkon frei. Die Einrichtung ist schlicht, edel, teuer. Gleich und Gleich
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