Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
dem Gesicht streichen. Minna sollte lächeln und ihr versichern, alles käme in Ordnung. Aber Minna geht durchs Zimmer, ohne sie zu beachten, setzt sich ohne ein Wort in den Sessel neben dem Telefon und faltet die Hände über dem Bauch. Sie setzt sich ans andere Ende des Zimmers neben das Telefon und wiegt den Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück.
3.
I n den ersten drei Stunden nach dem Verschwinden eines Kindes besteht eine neunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, es zu finden. Ein Kind hat spontan die Idee, einen Stein ins Wasser zu werfen, die Nachbarn zu besuchen oder auf einen Baum zu klettern. Die Eltern gehen einmal durch die Hölle und zurück, vermutlich altern sie um Jahre. Dann taucht das Kind wieder auf. Bekommt eine ordentliche, von Umarmungen und Tränen unterbrochene Standpauke. Neun von zehn Fällen enden glimpflich. Die meisten Kinder werden wiedergefunden.
Nach vierundzwanzig Stunden ist die Wahrscheinlichkeit, ein Kind lebend zu finden, nicht annähernd so hoch. Aber es besteht immer noch Hoffnung. Man hat schon zusammengekrümmte Kinder in Büschen, hinter Dünen, in fremden Garagen gefunden. Manchmal schlafend, manchmal ein wenig dehydriert, hungrig und sehr verängstigt, aber lebendig.
Lebendig.
Nach zwei Tagen sinkt die Wahrscheinlichkeit gegen null. Denn selbst wenn kein Entführungsfall vorliegt, selbst wenn das Kind sich einfach nur verlaufen hat, musste es lange, lange Zeit ohne Wasser und Nahrung auskommen. Die Überlebenswahrscheinlichkeit wird umso geringer, je jünger das Kind ist.
Gemma wird mittlerweile seit knapp achtzehn Stunden vermisst. Streifenwagen fahren im Schritttempo die Uferstraßen ab, das Sirren und Dröhnen von Helikoptern ist zu hören und das schuck-schuck-schuck der Boote, die langsam übers Wasser tuckern. Überall sind Polizisten, und stündlich kommen aus Dunedin und Christchurch neue hinzu: Detective Inspectors, Detective Senior Sergeants, das volle Programm. Im Moment haben die beiden Dorfpolizisten von Wanaka nichts mehr zu melden.
Man munkelt, Gemma Anderson sei höchstwahrscheinlich ans Ufer gelaufen und ins Wasser gefallen, das arme, kleine Ding. An manchen Stellen ist der See unermesslich tief; eine kleine Mädchenleiche bliebe dort unten für immer unauffindbar. Seit dem frühen Morgen sind Taucher im Einsatz, auf dem Pier und am Ufer stieren Freiwillige ins Wasser. Gegen neun Uhr herrschte große Aufregung. Ein Taucher kam winkend und gestikulierend an die Oberfläche, ein Objekt wurde geborgen und in Ufernähe geschippert, wo schon die Polizeibarkasse wartete. An Deck lag ein tropfnasser Sack, mit Steinen beschwert, oben mit einem Seil zugebunden.
Tote Kätzchen. Verfaulte Kadaver. Knochen und Fellreste.
Sie kommen früh am Morgen. Durchs Fenster sieht Stephanie sie auf das Haus zukommen, zwei Männer mit penibel gebügelten Hosen, langärmeligem Hemd und Krawatte, und das bei der Hitze. Stephanie öffnet die Tür, weil Dave schon weg ist und Minna heulend am Küchentisch sitzt. Die Männer zeigen ihre Dienstausweise vor, so wie im Fernsehen. Sie sind Polizisten und wollen mit Minna sprechen. Sie kommt gerade aus der Küche, ihre Augen leuchten vor Angst und vor Hoffnung.
»Was wollen Sie? Haben Sie … Was ist passiert?«
»Noch nichts, Mrs. Anderson. Wir möchten uns mit Ihnen unterhalten. Mein Name ist Matt Hayes, und das ist Chris Warwick.«
»Ich habe Brian Jackson gestern Abend alles erzählt, was ich weiß. Ich möchte … ich muss raus und nach Gemma suchen.«
»Da draußen sind jede Menge Leute im Einsatz. Sie können uns am besten helfen, indem Sie mit uns reden.«
Minna führt sie ins Wohnzimmer und schließt die Tür. »Ich sollte dabei sein. Ich muss dabei sein, wenn sie gefunden wird.«
Matts Stimme klingt ruhig und vernünftig. »Mrs. Anderson, je mehr wir wissen, desto genauer können wir den gestrigen Tag rekonstruieren. Wie wäre es, wenn wir uns hinsetzen und noch einmal zusammen durchgehen, woran Sie sich erinnern?«
Sie setzt sich und schaut die Männer angriffslustig an. »Ich habe Brian alles erzählt, was mir eingefallen ist. Mehr kann ich nicht …«
»Wir haben den Bericht gelesen, wir möchten ihn aber noch einmal Schritt für Schritt durchgehen, um auszuschließen, dass wir etwas übersehen haben, Mrs. Anderson. Minna, richtig? Darf ich Sie Minna nennen?«
»Ja, aber ich habe Ihnen doch gesagt …«
»Eins nach dem anderen. Fangen Sie mit dem Vormittag vor dem Picknick an, mit
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