Komm zu mir, Schwester!
Gedanken ganz auf sie. In meiner Vorstellung sah ich mich Cliff House betreten und die Treppe hochgehen, an der Küche vorbei, am dunklen Wohnzimmer, am Kinderzimmer und dem Schlafzimmer meiner Eltern ⦠bis zur Tür meines Zimmers. Ich streckte die Hand aus und legte sie auf den Türknauf. Sie war da. Ich konnte sie spüren auf der anderen Seite, dort ruhte sie sich aus, ganz still, und wartete. Ich wusste es, aber ich hatte nicht die Kraft, sie zu erreichen. Der Knauf wollte sich nicht drehen.
»Helen?«, flüsterte ich. »Bist du wach?«
»Hmmmm.« Ich hörte, wie sie sich in ihrem Bett unter der Decke umdrehte.
»Ich muss dich was fragen.« Ich stützte mich auf den Ellenbogen. »Helen, glaubst du, ich könnte es auch?«
»Was denn?« Wie ernst es mir war, musste sie aus meinem Ton herausgehört haben, denn jetzt klang sie nicht mehr verschlafen. »Was hast du vor?«
»Ich will das Astralreisen versuchen. Ich bin genauso wie Lia. Wäre es da nicht nur logisch, wenn ich über dieselben Kräfte verfügen würde wie sie? Eben habe ich an Cliff House gedacht, und ich hatte das Gefühl, dass ich aus meiner Willenskraft heraus dort hinkommen könnte, wenn ich mich nur genug anstrengen und den richtigen Dreh finden würde.«
»Nein!«, sagte Helen scharf. »Das solltest du niemals versuchen.«
»Warum denn nicht?« Ich fand diese Idee immer aufregender. »Stell dir doch mal vor, was das bedeuten würde! Wenn ich in der Lage wäre, mich so wie Lia von meinem Körper zu lösen, könnte ich alles machen! Ich könnte überallhin reisen!«
»Hör auf damit, Laurie. Ich will das nicht hören.«
»Aber warum nicht?«, fragte ich sie.
»Weil es widernatürlich ist.«
»In der Welt der Navajo ist es das nicht. Das hast du mir selbst erzählt.«
»Aber du lebst nicht in der Welt der Navajo«, sagte Helen. »Hier geht es nicht um deine Herkunft. Du bist nicht darin ausgebildet worden. Du würdest mit Kräften herumexperimentieren, mit denen du nicht umgehen kannst.« In ihrem Ton schwang echte Panik mit. »Das ist gefährlich. Du hast keine Ahnung, was da alles passieren könnte. Und ich möchte, dass du mir versprichst, es niemals zu versuchen.«
»Dann hältst du es also für möglich, dass ich es lernen könnte?«
»Ich glaube, das wäre möglich«, sagte Helen zögernd. »Aber ich weià einfach, dass du es bereuen wirst, wenn du es versuchst.«
»Ich versteh nicht, warum dir diese Vorstellung solche Angst macht.«
Ich legte den Kopf wieder aufs Kissen. Mein Herz hämmerte. »Das klang so sachlich, als du von Luisâ Vater gesprochen hast. Wenn er eine Astralreise machen und die Geburt seines Sohnes beobachten konnte, warum sollte ich dann nicht dasselbe tun, um meine Schwester zu finden? Sie ist hier, irgendwo auf der Welt, als lebendiger Mensch, nicht bloà als Spiegelmädchen. Ich könnte auf dieselbe Weise zu ihr gehen, wie sie zu mir gekommen ist.«
»Es gibt bessere Methoden«, sagte Helen. »Du hast an die Adoptionsagentur geschrieben. Du könntest jetzt praktisch jeden Tag Antwort bekommen. Vielleicht schicken sie dir eine Adresse. Dann kannst du ihr schreiben oder sie anrufen.«
»Ich glaube nicht, dass die sich melden«, sagte ich. »Ich warte nun schon fast einen Monat. Und wenn sie antworten, dann wollen sie vielleicht keine Informationen rausrücken. Hast du doch selber gesagt.«
»Gib ihnen eine Chance«, bat Helen. »Gib ihnen noch ein bisschen mehr Zeit. Vielleicht kommt was. Sicher ist es nicht. Aber bitte, bitte, glaub mir, es wäre wirklich besser so.« Sie redete nicht weiter, doch als ich nichts sagte, nahm sie einen neuen Anlauf: »Versprich es mir, Laurie. Ich will hören, wie du es sagst.«
»Okay«, sagte ich zögernd. »Ich verspreche es. Ich warte noch eine Weile.«
Drei Tage später kam der Brief. Helen brachte ihn mit in die Schule und ich las ihn in einer Kabine im Mädchenklo. Nur dort war ich ungestört.
Die Frau, die mir schrieb, eine Mrs Kelsey, war die Tochter von Margaret Hastings.
»Ihr Brief wurde mir nach Phoenix nachgeschickt«, schrieb sie. »Nach dem Tod meiner Mutter ist die Agentur geschlossen worden. Die Unterlagen wurden versiegelt und eingelagert. Ich erinnere mich, dass es einen Fall gegeben hat, in dem eine
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