Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
Vom Netzwerk:
schützte er die schlimme Seite seines Gesichts vor dem Wind. Wenn Jeff da war, setzte ich mich neben ihn. Keiner von uns redete viel. Seine stumme Gesellschaft war mir lieber als das ständige Geschnatter der Gruppe unten.
    In der Schule aß ich nach wie vor mit Helen zu Mittag, und an einem Freitag ging ich für ein ganzes Wochenende mit zu ihr nach Hause. Da hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit, ihre Eltern kennenzulernen. Eigentlich hatte ich sie mir genau so vorgestellt, wie sie waren, nette Leute, die ihre Tochter offensichtlich anbeteten.
    Â»Wir sind nicht so ganz sicher, ob wir das Richtige getan haben, als wir hierherzogen«, vertraute Mrs Tuttle mir beim Essen an. »Die Lebenshaltungskosten sind hier so viel höher. Zwar hat mein Mann eine Anstellung als Lehrer finden können, aber ich nicht, ich springe nur ein, wenn jemand fehlt. Aber wir dachten, es wäre gut für Helen, mal eine andere Art Leben kennenzulernen. Sie ist ein so offener Mensch, wir hätten nie gedacht, dass es ihr schwerfallen könnte, Freunde zu finden.«
    Â»Helen hat Freunde«, versicherte ich ihr, während Helen peinlich berührt stöhnte.
    Â»Oh, ich weiß, aber abgesehen von dir sind das nur so flüchtige Bekanntschaften. Sie wird nie zu Partys eingeladen oder zu anderen Leuten nach Hause. Vielleicht braucht so was einfach nur Zeit. Wir haben schließlich alle die Geschichten über die sagenhafte Reserviertheit der New Englander gehört.«
    Â»Der Junge mit dem Narbengesicht kommt doch manchmal vorbei«, warf Mr Tuttle ein.
    Â»Jeff?« Ich guckte Helen erstaunt an. »Das hast du mir ja gar nicht erzählt.«
    Â»Da gibt es auch nichts zu erzählen«, meinte Helen. »Er hat mich ein paar Mal besucht und wir sind einen Abend ins Kino gegangen. Ist keine große Sache.«
    Â»Was für ein seltsamer junger Mann«, sagte ihre Mutter. »Es ist tragisch, was ihm zugestoßen ist, und es tut mir auch sehr leid, aber es wird Helens Ruf nicht viel Gutes tun, wenn sie mit ihm gesehen wird. Ich fände es ganz furchtbar, wenn die Leute denken würden, die beiden hätten eine mehr als kameradschaftliche Beziehung.«
    Â»Mom, ich bin ja selbst nicht gerade die Glamouröseste«, sagte Helen leichthin. »Ist doch egal, was die Leute denken. Abgesehen davon, ich mag Jeff. Sein Aussehen stört mich nicht. Er ist einsam – und ich …« Sie beendete den Satz nicht, sondern lachte, um die unausgesprochenen Worte zu übertönen. Dann schob sie ihren Stuhl vom Tisch zurück. »Tolles Essen, Mom. Laurie, wollen wir uns einen Film ansehen?«
    Helen Tuttle hatte ziemlich viel Stolz. Sie würde niemals zugeben, dass ihr Leben nicht ganz so war, wie sie es gern gehabt hätte – und dass sie auch einsam war.
    Der Abend verlief ganz entspannt und ohne besondere Vorkommnisse. Wir guckten ein paar DVD s und lasen Zeitschriften (wie ruhig es doch war in einem Haus ohne kleine Kinder), und um elf hatten wir die Schlafanzüge an. Sobald ich in dem Bett lag, das dem von Helen gegenüberstand, stellte ich fest, dass ich nicht die Spur müde war. Der Verkehrslärm vor dem zweistöckigen Stadthaus der Tuttles war mir so fremd. Ich stellte mir vor, wie die Wellen an die Felsen unter den Fenstern von Cliff House brandeten und versuchte, die Stadtgeräusche ins Tosen der Wellen zu verwandeln. Meine Geschwister würden jetzt schlafen, Mom auch. Dad würde in seinem Büro am Computer sitzen. Mein eigenes Zimmer würde leer stehen.
    Oder – vielleicht doch nicht?
    Und wenn Lia nun gekommen war? Was dann? , fragte ich mich. Was wäre, wenn sie jetzt da wäre und mich suchen würde?
    Sofort konnte ich sie auf der Leinwand meiner geschlossenen Augenlider sehen, so wie sie in dieser ersten Nacht gewesen war, als sie sich im Glas der Balkontür gespiegelt hatte. Mein Gesicht. Meine Haare. Meine Gesichtszüge. Aber die Mundwinkel hatte sie zu einem heimlichen Lächeln hochgezogen, das nicht meines war. Das war ich und das war ich doch nicht. Meine andere Hälfte. Ob sie jetzt in Cliff House war? Irgendwie war ich mir sicher, dass sie dort war. So viele Nächte hatte ich wach gelegen und auf sie gewartet, es war Schicksal, dass ich gerade in dieser Nacht, in der sie kommen würde, nicht da war, um sie zu empfangen.
    Lia! , rief ich stumm. Lia, verlass mich nicht wieder !
    Im Geist tastete ich nach ihr, konzentrierte meine

Weitere Kostenlose Bücher