Komm zu mir, Schwester!
als du dachtest, ich würde durch dein Fenster reingucken?«
»Klar«, sagte Meg. »Manchmal geht sie den Flur entlang. Neals Bett steht ganz drüben an der Wand, also kann er nicht so aus der Tür rausschauen wie ich. Sie guckt zu uns rein, aber sie bleibt nicht stehen. Sie geht die Treppe hoch.«
Das war mehr, als ich ertragen konnte. Hier war ich und bemühte mich, Lia zu erreichen, versuchte mit all meiner Kraft, Kontakt herzustellen â ohne Erfolg, während mein Bruder, meine Schwester und sogar jemand wie Jeff Rankin, der mir nicht besonders nahestand, sie überall sahen. Was konnte der Grund dafür sein? Strengte ich mich zu sehr an und blockierte das irgendwie die Kommunikation? Oder wollte Lia einfach nicht von mir gefunden werden? Wenn das der Fall war, warum kam sie dann überhaupt hierher? Sie musste doch wollen, dass ich von ihrer Anwesenheit wusste. Sonst wäre sie wohl kaum irgendwo hingegangen, wo die anderen sie sehen konnten. Es kam mir vor, als würde sie Katz und Maus mit mir spielen, mir zwar die Ohren mit dem trügerischen Geflüster ihrer Gegenwart füllen, sich aber nie sehen lassen.
Mit einem Seufzen stand ich vom Sofa auf und ging zum Fenster rüber. Die Sonne stand tief am Himmel, Wolkenschleier hatten sich über sie gelegt, sodass sich graues kaltes Licht über die Welt ergoss. Das Meer wirkte trübe und platt, und seine metallische Färbung erweckte die Illusion, man könne drüberlaufen, ohne zu versinken. Ich konnte mir fast vorstellen, wie irgendein Abenteuerlustiger sich zu Fuà auf den Weg zum Festland machte. Von Westen sah ich die Fähre auf ihrer vorabendlichen Tour mit den Büroangestellten und den Highschool-Schülern zur Insel kommen, die nach dem Unterricht noch zu Arbeitsgruppen und sportlichen Aktivitäten auf dem Festland geblieben waren.
Gordon würde auch auf dieser Fähre sein. Plötzlich wollte ich nichts auf der Welt lieber, als dort mit ihm am Bug stehen. Ich war es leid, mir Sorgen zu machen und zu grübeln, die emotionale Erschöpfung der letzten Monate hatte mich mitgenommen, und auch das war ich leid. Am liebsten hätte ich die Zeit zurückgedreht zu den schönen, hellen Sommertagen, in denen das Leben so unkompliziert und ich ganz einfach Laurie Stratton gewesen war, ohne irgendwelche Zweifel an meiner Identität und meinen Beziehungen, mit nichts weiter im Kopf als Sonnen und Segeln und Verliebtsein.
Abrupt wandte ich mich vom Fenster ab.
»Ich gehe eine Weile nach drauÃen«, sagte ich zu Megan.
»Würde ich nicht tun«, sagte sie. »DrauÃen ist es echt kalt.«
Erstaunt guckte ich sie an. »Okay, Mom.«
»Ich finde, du solltest da wirklich nicht rausgehen«, sagte sie ganz ernst. »Dieses Geisterdings ist in den Dünen. Hat Neal gesagt.«
»Das Geisterdings geht doch hin, wo es will«, sagte ich. »Nach dem, was du mir erzählt hast, ist sie öfter hier im Haus als irgendwo anders. Bis jetzt hat sie noch keinem was getan, oder?«
»Ich hab keine Angst vor ihr«, sagte Meg. »Jedenfalls nicht, solange wir alle zusammen sind. Da drauÃen ist es was anderes. Da bist du allein ⦠und vielleicht lässt sie dich nicht zurückkommen.«
»Das lass nur meine Sorge sein«, sagte ich. »Ehrlich gesagt, ich würde dem Geisterdings gern mal über den Weg laufen. Ich hätte eine ganze Menge Fragen, die ich ihr gern stellen würde. Aber erst geh ich zum Anleger runter und nehme die Fähre in Empfang. Vielleicht bringe ich Gordon mit zu uns.«
Ich lieà meine kleine Schwester im Kreise der Stofftiere zurück, die alle mit besorgt blickenden Glasaugen hinter mir her zu schauen schienen. Am Fuà der Treppe holte ich meine Jacke aus dem Garderobenschrank, dann stieà ich die Haustür auf und ging hinaus in die Kälte.
Megan hatte recht gehabt, es war echt kalt. In der zweiten Tageshälfte waren die Temperaturen so drastisch gesunken, als müssten sie mit dem Grauwerden des Wassers und des Himmels Schritt halten. Regen lag in der Luft, man konnte ihn riechen. Ich zog den ReiÃverschluss bis zum Kragen hoch, versenkte die Hände tief in den Anoraktaschen und stiefelte die Beach Road entlang auf den Anleger zu.
Wenn der Herbst kommt, verändert sich die Auslastung der Fähre total. Während der Sommermonate herrscht auf der 17:15-Fahrt zum Festland immer unglaubliches Gedränge.
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